Dezentral, autonom, experimentierfreudig

2019 war das Jahr von Fridays for Future. Die Protestbewegung und ihr Markenzeichen, der Schul­streik, verbreitete sich rasant und rüttelte immer mehr Menschen auf. Inzwischen treiben die jungen Aktivist:innen sogar die Politik vor sich her. Aber wie funktionieren die lokalen Gruppen? Wir sprachen mit Ole aus Halle über sein Engagement für das Klima.

Nein, es waren nicht verantwortungsvolle Politiker:innen, alarmierte Wissenschaftler:innen oder altgediente Umweltaktivist:innen, die die Klimarettung ganz oben auf die Agenda gehievt haben. Dies ist maßgeblich einer Bewegung zu verdanken, getragen von Schüler:innen, die freitags statt in die Schule auf die Straße gehen. Ihre Forderung: möglichst schnell greifende Maßnahmen, die das Klima schützen und das Erreichen des sogenannten 1,5-Grad-Ziels ermöglichen. Initiatorin und Gallionsfigur ist die 16-jährige Greta Thunberg. Starke Aufmerksamkeit bekamen die groß angelegten bewegungs- und bündnisübergreifenden „Klimastreiks“ etwa am 15. März oder 20. September 2019. Allein in Deutschland gibt es inzwischen rund 650 Fridays-for-Future-Gruppen. Inzwischen haben sich Unterstützergruppen gegründet, zum Beispiel Parents for Future, Scientists for Future oder auch Entrepreneurs for Future.

Klassische Graswurzelbewegung

Das Erstaunliche bei Fridays for Future Deutschland (FFFD): Es ist eine Organisation, die keine Rechtsform hat und weitgehend auf sichtbare Funktionsträger:innen verzichtet. Als klassische Graswurzelorganisation folgt sie dem „Bottom-up-Prinzip“. Das heißt, die Gruppen funktionieren autonom und selbstbestimmt, und es gibt keine verbindlichen Mitgliedschaften. Ganz bewusst existiert auch kein Vorstand, wohl aber hat die Bewegung so etwas wie informelle Sprecher:innen, unter ihnen Luisa Neubauer. Die Mehrzahl der Aktiven möchte nicht, dass einzelne Gesichter im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, sondern die Forderungen. Um die Bewegung dennoch zusammenzuhalten, kann jede lokale Gruppe eine:n Engagierte:n in die bundesweite Delegiertenkonferenz entsenden, die jeden Sonntag eine Telefonkonferenz veranstaltet. Beschlüsse brauchen die Zustimmung von mindestens 70 Ortsgruppen.

Wir wollten wissen, wie eine dieser Gruppen funktioniert und haben mit Ole Horn (19) von Fridays for Future Halle (Saale) gesprochen. Gemäß dem gemeinsamen Verständnis stellte er zu Beginn des Gesprächs klar, dass er nicht für die gesamte Gruppe spricht, sondern als Einzelperson.

Interview: „Zwei Wochen lang haben wir kaum geschlafen“

openTransfer: Ole, es war gar nicht so einfach, dich zu erreichen. Was steht bei euch zurzeit alles an?

Ole: Wir organisieren gerade die Klimastreik-Demo am 29. November. Da wir eine kleinere Gruppe sind, streiken wir nicht jeden Freitag, aber zu den großen Aktionstagen mobilisieren wir. Die Demo muss dann bei der Versammlungsbehörde angemeldet werden. Wir organisieren drei Demonstrationen und brauchen jede Menge Technik wie Boxen und einen mobilen Stromgenerator, der bitte nicht mit Diesel betrieben wird – alles gar nicht so einfach. Wir starten ziemlich viele Anfragen, um die Sachen möglichst kostenlos zu bekommen.

Wie bekommt ihr die Leute zu den Demos?

Das ist ganz viel Netzwerkarbeit. Wir mobilisieren natürlich auf Social Media, bereiten dafür Grafiken vor, die wir dann immer wieder in die Kanäle spielen. Es ist aber auch viel Handarbeit: Wir kommunizieren sehr intensiv mit anderen Organisationen und Engagierten hier vor Ort. Dafür geht schnell eine Stunde am Tag drauf. Für das alles haben wir dieses Mal nur zwei Monate Vorlauf, das ist schon eine echte Herausforderung!

Mit wie vielen Leuten müsst ihr das stemmen?

Wir sind ein fester Stamm von fünf bis sechs Leuten. In der heißen Vorbereitungsphase werden wir dann mehr. Jede Woche haben wir ein offenes Plenum, zu dem jeder kommen kann. Den großen Klimastreik am 20. September mit 4.500 Teilnehmenden in Halle haben wir nur zu viert organisiert. Da haben wir aber auch zwei Wochen lang kaum Schlaf bekommen …

Ein Schritt zurück: Seit wann ist eure Gruppe aktiv und wie organisiert ihr euch?

In Halle gibt es seit Januar 2019 Demos, ich bin seit März im Orga-Team. Grundsätzlich können wir völlig autonom arbeiten. Es gibt ein paar Handreichungen und Vorlagen von FFFD, die sind aber nicht verpflichtend. Wie wir genau arbeiten und mit welchen Schwerpunkten, das haben wir selbst entwickelt. Wir reflektieren und verbessern unsere Prozesse regelmäßig. Das kann nach einem langen Schultag anstrengend sein, ist aber notwendig. Mit dem Messenger „Signal“ können wir zwischendurch kurzfristig Entscheidungen treffen. Wie jede Gruppe haben wir einen Delegierten, der an den wöchentlichen Telefonkonferenzen teilnimmt. Es gibt da ein System, das die Redeliste erstellt, und hinterher geht ein Protokoll an alle.

Wie steht es mit eurer Finanzierung?

Wir sammeln auf der Demo Spenden, haben aber kein Konto. Auf Bundesebene gibt es ein Konto von FFFD, an dem jede Ortsgruppe einen Anteil hat und auf Antrag Mittel bekommen kann.

Wie sieht der Austausch mit anderen FFF-Gruppen aus?

Wir sind mit allen Ortsgruppen in Sachsen-Anhalt in Kontakt und mobilisieren auch gegenseitig für unsere Demos. Viel Austausch gibt es auch mit der Landes- und Kommunalpolitik. Die interessiert es inzwischen sehr, was wir von ihnen wollen. Dazu arbeiten wir dann zusammen mit anderen Gruppen Forderungen aus. Wir werden wahrgenommen, aber nicht immer ernstgenommen – viele Zusagen bleiben im Vagen oder werden nicht eingehalten. Einige aus der Politik interessierten sich vor allem dafür, dass wir nicht zur Schule gehen, inzwischen sprechen wir aber mehr über Inhalte.

Werdet ihr auch angefeindet?

Das passiert definitiv – vor allem natürlich von rechter Seite. Es haben Leute schon das Orgateam verlassen, weil der Druck zu groß war. Bei unserer Oktober-Demo gab es das erste Mal Gegendemonstrant:innen: 14 Leute. Die wollten uns einschüchtern und haben uns beim Abbau gefilmt. Andere dringen in unsere Chats ein und posten dort Sticker und Nachrichten, die menschlich nicht vertretbar sind.

Was motiviert dich trotzdem, dabeizubleiben?

Klima- und Umweltschutz sind einfach unfassbar wichtige Themen, mit denen ich mich schon lange beschäftige und die uns alle angehen. Manchmal wünschte ich mir mehr Zeit für andere Sachen. Aber ich nehme extrem viel mit – von Argumentationsstrategien über Organisationsskills bis hin zur Selbstdisziplin. Es freut mich sehr, gemeinsam mit meinen Mitstreitern einen Beitrag zu leisten und Jugendlichen Gehör zu verschaffen.

Die Fragen stellte Henrik Flor.

Fotos: Fridays for Future Deutschland

Henrik Flor

Diplom-Politologe, absolvierte nach dem Studium ein Verlagsvolontariat und betreute danach für eine Kommunikations-Agentur verschiedene Kunden aus der Buchbranche. Er leitete bis 2021 den Bereich Redaktion & Konzeption bei der Stiftung Bürgermut, baute dort das digitale Engagement-Magazin Enter auf und war von Anfang an bei der Entwicklung von opentransfer.de dabei. Henrik Flor ist Gründungsmitglied des Vereins Netzdemokraten, der Partizipationsmöglichkeiten im Internet auslotet.

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