Wachsen durch Kooperationen – Foodsharing
Raphael Fellmer lebt den aktiven Konsumstreik: Ganz ohne Geld wohnt er zusammen mit seiner kleinen Familie in Berlin. Der vegane Lebensstil unterstreicht seine Grundabsicht Nachhaltigkeit in den Alltag zu bringen. Inzwischen ist aus einer Idee ein spannendes Transferprojekt geworden, das vor allem aufgrund einer gelungenen Vernetzung funktioniert.
Angefangen hat alles mit einer Reise nach Mexiko. Raphael reiste bereits 2010 ohne Geld ans andere Ende der Welt. Auch dort wurde er mit dem verschwenderischen Umgang mit Lebensmitteln konfrontiert. Wie in Europa landet dort ein großer Anteil der Lebensmittel auf dem Müll, während andere Menschen hungern. Er beschloss, sein Leben aktiv dafür einzusetzen, dieser Ressourcenverschwendung entgegenzuwirken. Auf der persönlichen Ebene suchte er sich fortan sein Essen in den Mülltonnen der Bio-Märkte Berlins. Das sogenannte Containern wurde von immer mehr Verkaufsstellen unterbunden. Der vermeintliche Müll wurde weggeschlossen und die Mülldiebe, die dennoch aus den Tonnen Essbares mit nach Hause nahmen, wurden kriminalisiert.
Nicht nur für Raphael war das eine paradoxe Situation. Er traf auf das Projekt Foodsharing und initiierte mit anderen eine Plattform, deren Ziel eine Kooperation mit allen Stellen, die mit Lebensmittel handeln, ist. Raphael engagiert sich dafür längst über die Grenzen Berlins hinaus. Zu den Partnerinnen und Partnern gehören neben gastronomischen Betrieben auch Bäcker oder Supermärkte. Zunächst wurden verschiedene Biomärkte in seinem Umfeld angeschrieben, um Kooperationsmöglichkeiten auszuloten. Nicht alle meldeten sich zurück. Vor allem der Kontakt mit der Berliner Bio Company brachte das Projekt zum Rollen: Sofern die Tafel die übrig gebliebenen Lebensmittel nicht abholt, können die LebensmittelretterInnen (auch foodsaver genannt) zu festgelegten Zeiten alles, was noch verwertbar ist, bei den jeweiligen Filialen abholen.
Lebensmittel retten: Foodsaver und BotschafterInnenn
Das ehemals sehr persönliche Netzwerk von Aktiven hat den Sprung ins Web 2.0 erfolgreich absolviert. Auf Lebensmittelretten.de, einer Initiative des Foodsharing e.V., können sich Freiwillige anmelden und vernetzen. Dabei werden unterschiedliche Engagmenttypen angesprochen. Als „FreiwilligeR“ wird die Idee hinter der Foodsharing-Bewegung weiter getragen. „Foodsaver“, bzw. LebensmittelretterInnen sind vor Ort aktiv und holen gespendete Lebensmittel ab, um sie weiterzuleiten oder selbst zu verbrauchen. Die „BotschafterInnen“ sind Personen, die regionale Teams koordinieren und dabei mehr Verantwortung tragen. Sie bauen zum Beispiel auch Kontakte zu neuen Abnahmestellen und organisieren Veranstaltungen. Es entsteht eine soziale Online-Community für LebensmittelretterInnen, die momentan in der Betaphase getestet wird. 100 Botschafter, 1500 Foodsaver und 200 Geschäften kommunizieren bereits über das Netzwerk.
Dabei läuft alles sehr koordiniert ab: Die regionalen Teams sind untereinander eng vernetzt. An Absprachen muss sich gehalten werden, meist können nur bestimmte Personen zu festgelegten Zeiten Essen abholen. Neben der Pünktlichkeit spielt oft auch das Erscheinungsbild der Leute eine Rolle. Raphael betont, dass Foodsharing über das pure Einsammeln der Lebensmittel hinaus geht. Über die Zeit entwickelt sich ein Verhältnis mit den MitarbeiterInnen und die Aktionen tragen zur weiteren Sensibilisierung für das Thema bei.
Einen wichtigen Faktor betont Raphael: Jeder kann mitmachen, es findet keine Bedürftigkeitsüberprüfung statt. Ebenso wird die Programmierung hinter der Plattform als Opensource-Projekt anderen zur Verfügung gestellt. Er hofft, dass sich bald weitere Länder der Bewegung anschließen.
Rechtliche Herausforderungen
Für diejenigen, die Lebensmittel abgeben, gibt es eine Rechtsvereinbarung. Das bedeutet, dass die Läden kein Risiko eingehen. Gerade bei schnell verderblichen Waren wie Milchprodukten oder Fleisch- und Wurstwaren ist es wichtig, die Kühlkette nicht zu unterbrechen und darüber Nachweise zu führen. Da das System auf einer Schenkbasis basiert, besteht hier auch eine andere Rechtslage und die abgebenden Stellen können nicht verklagt werden.
Foodsharing – Lebensmittel teilen statt wegwerfen
Ein zweites Onlineangebot des Vereins ist foodsharing.de. Auch hier steht der Vernetzungseffekt im Vordergrund. Es können Lebensmittel angeboten werden, aber auch gesucht werden. Wenn eine Familie zum Beispiel einen vollen Kühlschrank hat, aber am nächsten Tag in den Urlaub fährt, kann sie einen Essenskorb auf der Plattform einstellen und abholen lassen, bevor die Lebensmittel verderben.
Der Ansatz von Foodsharing bleibt aber nicht nur auf der individuellen Ebene stehen. Ein Ziel ist es, alles, wo irgendwie mit Lebensmitteln umgegangen wird, in einer Datenbank zu sammeln und dort darzustellen, wie nachhaltig die Betriebe und Organisationen wirtschaften. Raphael sieht Foodsharing als Bindeglied zwischen den Betrieben und VerbraucherInnen. Momentan werden weiterhin Läden gesucht, die mitmachen. Raphael gibt an, dass sich der Einsatz für die Unternehmen in erster Linie in Hinblick auf die Imagepflege bezahlt macht. Auch Kantinen sollen in der Zukunft angesprochen werden. Hier landen Unmengen an zubereiteten Essen bereits nachmittags im Müll.
In der Diskussion auf dem Opentransfer Camp in Berlin kam auch die Frage auf, ob denn Foodsharing nicht die etablierten Strukturen der Tafeln verdrängen würde. Raphael schätzt die Arbeit der Tafeln sehr, sieht aber auch Ansatzpunkte, die mit der Foodsharing-Bewegung effizienter umgesetzt werden können. Er nennt die tendenziell langsameren und zentralen Strukturen sowie den hohen Aufwand an Organisation, der hinter den Tafeln steht. Er kritisiert aber auch, dass Menschen dort nur Lebensmittel erhalten, wenn sie ihre Bedürftigkeit nachweisen können.
Ein anderer Aspekt dieser sehr online-orientierten Projekten war: Was passiert, wenn ich keinen Zugang zu Internet oder Telefon habe? In diesen Fällen übernehmen die BotschafterInnen eine tragende Rolle. Sie verabreden mit den betreffenden Personen feste Termine für Übergaben. Es ist auch angedacht, den Zugang zu Lebensmitteln über einen öffentlichen Verteiler zu organisieren. Das könnte zum Beispiel eine Teestube sein. Ähnliche Projekte wurde allerdings bereits vom Ordnungsamt verboten – aufgrund von hygienischen Bedenken.
Bei Foodsharing geht es auch immer um Verantwortung. Die Menschen sollen selbst an sich arbeiten und Lebensmittel überprüfen. Vielen ist der Unterschied zwischen einem Verbrauchsdatum (tatsächliche Frist, Weitergabe nicht mehr möglich) und dem Mindesthaltbarkeitsdatum (Empfehlungscharakter) nicht bewusst. Raphael betont, dass wir wieder mehr auf unsere Sinne vertrauen müssen um zu wenigstens zu testen, ob ein Produkt noch genießbar ist, bevor wir es wegwerfen. Mit Foodsharing soll den VerbraucherInnen ein Werkzeug in die Hand gegeben werden, womit sie sich wieder bewusster mit ihren Konsumentscheidungen auseinandersetzen. Letztendlich kommt das dann auch bei den Betrieben an: Nämlich dann, wenn schon im Vornherein gar nicht erst unnötig viel gekauft wird. Die ständige Überproduktion orientiert sich am Markt. Dazu meint Raphael, dass wir alle achtsamer einkaufen können, aber darüber hinaus Supermärkte gezielt ansprechen, dass auch Ware zweiter Wahl angeboten werden sollte. Seine Erlebnisse der letzten Jahre hat Raphael in einem Buch aufgeschrieben. Getreu seiner Philosophie gibt es dies natürlich kostenlos.
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Foto: Samantha Dietmar
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