Queere Jugendliche auf dem Berufsweg stärken

Auf dem Bild sind drei Jugendliche zu sehen. Eine Person hält sich eine Sonnenbrille vors Gesicht, eine andere einen Schnurrbart. Im Hintergrund hängt ein bunter Banner. Die Person mit dem Schnurrbart hält ein Schild in der Hand. Auf dem Schild steht "Ich brauche ein Queeres Jugendzentrum, weil... wir Unterstützung und Gemeinschaft brauchen."

Der Verein Andersraum, Hannovers queeres Zentrum und Raum für lesbisches, schwules, bisexuelles, trans*, inter* und queeres Leben, ist seit Langem in der Jugendarbeit aktiv. Im Mai 2021 hat er ein Mentoring-Programm gestartet, das queere Jugendliche auf dem Weg in den Beruf fördert.

„Wir möchten, dass Jugendliche selbstbestimmt leben können und Vertrauen in ihre Fähigkeiten haben. Dass sie sich ausprobieren und weiterentwickeln können. Dass sie viele Möglichkeiten kennen und wissen, dass wir ihnen viel zutrauen.“ Das schreibt der Hannoveraner Andersraum e.V. über das Ziel seines Mentoring-Programms, das queere Jugendliche bei ihrer beruflichen Entwicklung unterstützt.

„Wir leben eine Utopie, als wäre sie schon Realität“

Corinna Weiler

Motiviert wurde das Programm durch die Erfahrungen im Jugendzentrum des Vereins, QueerUnity. „Wir haben gemerkt, dass die Berufsorientierung und die Übergänge zwischen Schule, Ausbildung und Beruf mit erheblichen Hindernissen verbunden sind – sowieso für alle Jugendlichen, aber noch mal mehr für queere Jugendliche“, erklärt Corinna Weiler vom Andersraum e.V. „Queere Jugendliche haben dieselben Entwicklungsaufgaben zu bewältigen wie ihre Altersgenoss:innen, aber auch noch zusätzliche Herausforderungen zu meistern.“ Etwa ein inneres oder äußeres Coming-out und den Umgang mit einem Coming-out in der Schule, am Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. „Und wenn es trans* Jugendliche sind, die sich im Transitionsprozess befinden, dann treten ja viele Fragen in Bezug auf berufliche Themen auf“, erklärt Corinna. Etwa: Bewerbe ich mich mit dem richtigen oder noch mit dem alten, falschen (aber noch amtlichen) Namen? Wie verhalte ich mich, bis die Personenstandsänderung durch ist?

Studien zeigen, dass queere Jugendliche weit häufiger von Suizid, Depression und autoaggressivem Verhalten betroffen sind als nicht queere Gleichaltrige. Statistisch ist die Suizidalität queerer Teenager drei- bis vierfach höher als im Durchschnitt der Altersgruppe. „Das spielt in den ohnehin fragilen Übergang von Schule zu Ausbildung und Beruf hinein“, erklärt Corinna. Gründe genug, ein Programm aufzulegen, dass queere Jugendliche in dieser sensiblen Lebensphase gezielt stärkt. „Zusätzlich kam dann noch die Corona-Pandemie dazu“, erzählt Corinna. „Wir haben gesehen, dass die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen bei politischen Entscheidungsträger:innen keine Priorität hatten und im Pandemie-Management ganz hinten standen. Wir wollten den Jugendlichen etwas zurückgeben und wir schulden ihnen auch etwas, wo es für sie so schlecht gelaufen ist.“

Start zum Diversity-Tag

Zum Diversity-Tag am 18. Mai 2021 ging das Mentoring-Programm des QueerUnity an den Start. Bis Ende Oktober konnten die Hannoveraner:innen zehn Tandems vermitteln, 26 Mentor:innen haben sich für das Programm beworben. Es gibt also zurzeit (noch) einen Mentor:innen-Überhang. Die Mentees waren bis auf eine Ausnahme alle vorher schon im queeren Jugendzentrum aktiv. Corinna hofft, dass sich das Spektrum der Interessent:innen noch ausweitet. Von den (potenziellen) Mentor:innen kannte sie vorher keine:n. „Das sind alles Leute, die sich proaktiv gemeldet haben. Wir haben ganz normal Presse- und Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Da hatten viele Menschen – queere Personen, aber auch ‚straight allys‘ – offenbar das Bedürfnis, aktiv zu werden“, freut sie sich.

Auf sind Jugendliche, die in einem Kreis knien. Die Jugendlichen zeigen alle mit einem Arm in die Mitte des Kreises. In der Mitte liegen bunte Karten. Das Foto wurde von oben aufgenommen, so dass nur die Hinterköpfe der Personen zu sehen sind, nicht die Gesichter.

Anbahnung, Vorgaben und Matching

Im Programm gibt es viele Freiräume für die Tandems, aber auch klare Strukturvorgaben. Sowohl für interessierte Mentees als auch Mentor:innen gibt es ein vom Andersraum e.V. definiertes Anforderungsprofil. Als Mentees bewerben können sich Interessierte zwischen 14 und 27 Jahren, wobei den Schwerpunkt zurzeit Menschen zwischen 16 und 18 bilden. Für die Mentor:innen gilt: Sie sollten als gutes Vorbild taugen, das heißt, Berufs- und Lebenserfahrung mitbringen, gut zuhören können, bereit sein, die Mentees in den Mittelpunkt zu stellen und Wissen, Erfahrungen und Kontakte mit ihnen zu teilen.

Auf der Grundlage der Profilbögen, die sowohl angehende Mentor:innen als auch Mentees ausfüllen müssen, nimmt Corinna ein Matching vor. Im Vordergrund steht dabei, dass neben der „Chemie“ vor allem die beruflichen Interessen und Schwerpunkte passen. Eine mit einem Psychologiestudium liebäugelnde Mentee hat sie etwa mit einer Diplom-Psychologin gematcht, einen Mentee, der eine künstlerische Tätigkeit zum Beruf machen will, mit einer Grafik-Designerin. Passt etwas, folgt auf Corinnas Vorschlag ein Kennenlernen – bisher mündete jedes in eine Mentoring-Beziehung.

Tandem-Laufzeit

Angelegt ist die Mentoring-Partnerschaft auf ein Jahr. Beide Seiten verpflichten sich auf mindestens ein Treffen (digital oder analog) pro Monat. Das Programm ist rollierend, anmelden kann man sich jederzeit und ein Start ist nach jedem erfolgreichen Matching möglich. Nach einem halben Jahr wird gemeinsam mit Corinna eine Zwischenbilanz gezogen.

Jedes Treffen dokumentiert das Tandem in einem Gesprächsprotokoll, für das der Andersraum e.V. eine Vorlage mit Fragen bereitstellt. Das dient auch der Wirkungsorientierung. „Die Arbeit unseres Vereins ist insgesamt stark wirkungsorientiert“, erklärt Corinna. „Ein Projekt ist für uns nur dann erfolgreich, wenn im Denken, Fühlen und Handeln der beteiligten Menschen eine Verbesserung eingetreten ist.“ Um das messen zu können, müssen vorher Ausgangspunkt und Ziele definiert werden. In den Gesprächsprotokollen reflektieren die Teilnehmenden ihre Ziele und den Prozess. „Nach einem halben Jahr schauen wir da dann gemeinsam drauf: Was hat sich bei euch verändert, was ohne das Mentoring nicht eingetreten wäre?“, so Corinna.

Für jede Gruppe – Mentees und Mentorinnen – bietet der Verein Fortbildungen, über deren Themen sie selbst abstimmen. Für Mentor:innen waren das im ersten halben Jahr eine Veranstaltung zum Thema Abgrenzung (wie kann ich sensibel, aber auch abgrenzend reagieren, wenn im Mentoring heikle Themen aufkommen, die eigentlich nicht dort hingehören?) und zu Methoden der Zielermittlung (wie können Mentor:in und Mentee gemeinsam Ziele herausarbeiten?). Für die Mentees gab es eine Veranstaltung zu Stipendien, demnächst ist ein Rhetorik-Training geplant. Zweimal im Jahr finden Netzwerktreffen für alle statt – im Sommer führte die erste Exkursion die Teilnehmenden zum gemeinsamen Klettern in einen Hochseilgarten in Hannover.

Das Foto zeigt eine Menschenmenge beim CSD. Die Menschen tragen Plakate vor sich her, sind verkleidet und tragen Regenbogenflaggen auf ihrer Kleidung.

Ausblick

„Nach einem Jahr werde ich die Tandems fragen: Wollt ihr weitermachen und wenn ja, warum?“, kündigt Corinna an. Was sie sich für das Programm wünscht? „Ich will, dass queere Jugendliche – beruflich und privat – und wir alle miteinander glücklich leben können. Wir alle können dazu beitragen, dass diese Gesellschaft das möglich macht. In einer Zeit, in der es auch massiven Druck von rechts gibt, kann man dagegen kämpfen – das müssen wir auch. Aber wir müssen auch immer wieder positive Visionen der Gesellschaft, in der wir leben möchten, darstellen. Das ist das, was wir in unserem Verein im Kleinen machen. Wir leben diese Utopie, als wäre sie schon Realität.“

Mehr Informationen über das Mentoring-Programm von Andersraum e.V. findet ihr hier.

Artikel: Benita v. Behr


Christine Langer

Christine Langer ist bei der Stiftung Bürgermut als Projektkoordinatorin bei openTransfer #Patenschaften tätig. Sie studierte Internationale Entwicklung und Koreanologie in Wien und Seoul (Südkorea) sowie Gender Studies in Berlin (MA Gender Studies). Während ihrem Studium begann sie beim Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg (LSVD) zu arbeiten wo sie nach ihrem Abschluss das Mentor:innen Programm für queere Geflüchtete leitete. Privat engagiert sie sich im Bereich (Queer-)Feminismus und Fußball.

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