Unterm Strich: der Digitale Flüchtlingsgipfel 2016
170 Teilnehmende aus 100 Initiativen, Start-ups, Projekten, Stiftungen, Staat und Verwaltung trafen sich diesen Dienstag in Berlins Mitte. Zentrale Frage: Wie kann sich die digitale Flüchtlingshilfe konsolidieren und besser koordiniert werden? openTransfer war Programmpartner der Veranstaltung.
Es hatte gerade einmal drei Monate von der ersten Idee bis zur ersten Umsetzung gedauert. Im vergangenen Jahr noch hatten Initiativen und Vereine, Unternehmen und Verbände, Aktivisten und Einzelkämpfer vor allem digitale Soforthilfe für Geflüchtete und Engagierte geleistet. Nun soll der nächste Schritt gegangen werden: Die vielen einzelnen Angebote brauchen eine effektive Vernetzung und Konzentration auf die tatsächlich wirksamen Tools, Apps und Maps. Eingeladen in die Berliner Repräsentanz der Bertelsmann Stiftung hatte das Bundesinnenministerium – die inhaltliche und organisatorische Umsetzung übernahmen zu großen Teilen die Programmpartner betterplace lab, Initiative D21 und openTransfer.
Vormittag: frontal
Das erste Grußwort kam von höchster Stelle. Innenminister de Maizière legte direkt den Finger in die Wunde: Der beeindruckenden Vielfalt an digitalen Angeboten in der Flüchtlingshilfe fehle es manches Mal an Abstimmung, dem Seitenblick, welche Angebote denn bereits existieren, und einem nüchternen Check, welche Wirkung tatsächlich erreicht werde.
Foto: Henning Schacht, berlinpressphoto.de
Eine interessante Einschätzung kam von Joana Breidenbach vom betterplace lab. Durch den Flüchtlingszuzug habe Deutschland einen regelrechten Innovationsschub an der Schnittstelle von digital und sozial erfahren. Gleichzeitig bestünde die Gefahr, dass Teile dieser neuen Infrastruktur kollabierten, wenn das Ganze nicht wirksamer und nachhaltiger finanziert aufgestellt würde.
Applaus erntete der Input von Birgit Radow, stellv. Generalsekretärin des Bundesverbandes Deutscher Stiftung. Sie machte deutlich, dass vor Ort zahllose hervorragende Ideen für die Unterstützung von Geflüchteten entstanden seien, davon aber niemand erfahre. Das Ergebnis: Parallelstrukturen und verschwendete Ressourcen. Es brauche einen systematischen Wissens- und Projekttransfer: „Wir müssen konkret wissen, was wirkt, worauf man bei der Umsetzung achten muss, wo man Hilfe bekommt.“ Dazu gehöre auch der Mut zu benennen, was nicht wirkt und sich von diesem Engagement zu verabschieden.
Raus aus der Filter Bubble
Ein Panel mit ungewohnter Besetzung schloss sich an. Neben Hans-Georg Engelke (Staatssekretär im Bundesinnenministerium), Susanne Poelchau (Bayerischer Rundfunk) und Marc Reinhardt (D21) fand sich dort auch der syrische YouTuber Firas Alshater.
Foto: CC BY NC ND / Henning Schacht, berlinpressphoto.de
Von ihm kam immer wieder konstruktives Störfeuer: Wer nicht wisse, ob er überhaupt einen Aufenthaltsstatus bekomme, der interessiere sich auch nicht für Sprachlern-Apps. Die allermeisten Geflüchteten nutzten ausschließlich Facebook und Whatsapp. Einigkeit herrschte hingegen darüber, dass man mehr miteinander reden müsse: die Engagierten mit den Geflüchteten, die etablierten Verbände mit den jungen Start-ups, Politik & Verwaltung mit Initiativen. Kommunikation, die derzeit auf einzelnen „Inseln“ stattfände, müsse sich öffnen, alle müssen mitreden können. Auf diese Weise könne auch Vertrauen entstehen, das derzeit nicht zwischen allen Akteure zu finden sei. Die Aufnahme und Integration von Geflüchteten wurde auch vonseiten des Bundesinnenministeriums als Chance beschrieben, doch einmal überzogene Standards und Vorschriften auf den Prüfstand zu stellen. Das ganze Land könne geschmeidiger und agiler werden – wenn man das jetzige Fenster nutze.
Das Barcamp
Der Nachmittag fand in einem komplett anderen Format statt: Barcamp oder „Unkonferenz“ war nun die Rahmung. 25 Sessionvorschläge kamen zusammen. Die Bandbreite der Themen reichte von Wirkungsmessung und Finanzierungsinstrumente über Unternehmensengagement, Casual Volunteering bis hin zur Usability von Deutschlern-Apps und der erfolgreichen Skalierung von Flüchtlingsprojekten.
Foto: CC BY 2.0 / Henning Schacht, berlinpressphoto.de
Hier ein paar Thesen und Ergebnisse aus den Sessions:
Plattformen
-Die vielen parallel entstandenen Plattformen und Tools sind zu wenig verknüpft, open source und nachhaltig. Es braucht eine neue Konnektivität und Standardisierung.
-Nötig ist eine klare Bewertung, was digitale Angebote können und was nicht – das schafft Übersicht und Transparenz.
Jobs & Unternehmensengagement
-Es besteht großer Bedarf an Matching von Unternehmen und Initiativen. Wo können „casual volunteers“ sinnvoll eingesetzt werden und was erwartet sie?
-Viele Faktoren halten Unternehmen davon ab, sich in der Flüchtlingshilfe zu engagieren. Sinnvoll wäre ein niedrigschwelliger Einstieg und eine wiederholte Ansprache.
-Geflüchtete suchen Jobs, Unternehmen Geflüchtete. Im Weg stehen rechtliche, sprachliche, kulturelle Barrieren. Kann eine Datenbank für Geflüchtete und Recruiter funktionieren?
Wirkung
-Das Thema Wirkung werde häufig nicht von Anfang an mitgedacht.
-Da Wirkungsmessung die Ressourcen kleiner Initiativen schnell übersteigt, wäre ein Open-source-Template hilfreich oder der Einsatz von Corporate Volunteers mit Fachkenntnis (probono).
Spracherwerb
-Bei E-Learning-Angeboten fehlt es an Übersichten und Transparenz. Die Vielfalt ist sinnvoll, ein schneller Überblick wäre dies ebenso.
-Geflüchtete brauchen unmittelbar die Chance auf den Spracherwerb. Als sinnvoll haben sich Apps erweisen, die einen klassischen Sprachkurs ergänzen.
Und das war erst der Anfang
Wie geht es nun weiter, nach acht intensive Stunden auf dem Flüchtlingsgipfel. Wie gelingt es, dass die Erkenntnisse nicht verpuffen. Die Veranstalter hatten da eine Idee: Eine Lenkungsgruppe wird am 2. August 2016 für interessierte Teilnehmende am Flüchtlingsgipfel einen Hang-out veranstalten. Dort werden dann konkrete Angebote gemacht, wie die weitere Vernetzung aussehen kann und wie man an spezifischen Themen weiterarbeiten kann – digital ebenso wie analog.