Inklusion als Mindset

2019 hat der Inklusionsbetrieb Integra in Berlin das Mentoring- und Tandem-Projekt sei:dabei gestartet, das Menschen mit Fluchterfahrung und einer Behinderung gezielt durch 1:1-Tandems unterstützt. Projektleiterin Rebekka Meyer hat mit uns über die Bedeutung von inklusivem Mentoring gesprochen.

 

Geflüchtete Menschen mit einer Behinderung sind vielfach von gesellschaftlicher Teilhabe und einem gleichberechtigten Zugang zu Unterstützungsangeboten ausgeschlossen. Rebekka erzählt von einem häufig noch immer ausgeprägten Parallelsystem, dessen Fokus entweder auf Beratungsangeboten für Menschen mit Behinderungen liegt oder aber auf Personen, die in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben – allerdings gibt es kaum Angebote für diejenigen, die zu beiden Gruppe gehören. Das Projekt sei:dabei kann diese Lücke zwar nicht schließen, versucht aber durch ein niedrigschwelliges Zusatzangebot den Zugang zu erleichtern. „Unsere Idee ist es, dass unsere Ehrenamtlichen Menschen mit Fluchterfahrung und einer Behinderung begleiten, Kontakte zu den unterschiedlichen Beratungsangeboten herstellen und als Mittler:innen dabei helfen, den Überblick zu behalten“, erklärt Rebekka.

„Einige Menschen sind bestimmten Barrieren ausgesetzt, die wir als Gesellschaft schaffen. Um dies aufzulösen, sollte das Thema Inklusion als selbstverständlicher Anspruch und Haltung in Ehrenamts- und Mentoring-Projekten mitgedacht werden.“

Rebekka Meyer

Die Sorge, dass in Zeiten der Corona-Pandemie nicht ausreichend Ehrenamtliche gefunden werden können, hat sich nicht bestätigt. Im Gegenteil, derzeit gibt es einen großen Pool an ehrenamtlich Interessierten und rund 40 bestehende Tandems. Nach einem intensiven Erstgespräch und einer Einstiegsqualifizierung folgt eine zweite Schulung zum Thema „Behindert sein, behindert werden“, durchgeführt vom Sozialhelden e. V., der sich für eine inklusivere Gesellschaft engagiert. So werden neue Ehrenamtliche für Barrieren sensibilisiert, auf die Menschen mit Behinderung in Berlin stoßen können.

Viele Mentees nehmen mit der Motivation am Projekt teil, ihre Deutschkenntnisse zu verbessern, andere sind auf der Suche nach Unterstützung im Alltag oder bei bürokratischen Hürden, wie beispielsweise der Beantragung eines Behindertenausweises. In den Tandems sollte der Fokus nur auf einem Hauptanliegen liegen, das von den Mentees vorgegeben wird. Das Thema Behinderung steht dabei nicht unbedingt im Vordergrund, es geht oft eher um strukturelle Barrieren, die den Alltag oder den Zugang zum Arbeitsmarkt komplexer gestalten.

 

„Inklusion bedeutet, dass alle mitmachen können“

Dieses Verständnis von Inklusion liegt dem Projekt sei:dabei in Anlehnung an den Fördermittelgeber Aktion Mensch zugrunde. Rebekka beschreibt dies als Haltung, welche die eigene Bereitschaft und Offenheit beinhaltet, Menschen mit einer Behinderung mitzudenken, sich selbst kontinuierlich zu reflektieren und „das eigene Mindset zu überprüfen“. In der praktischen Arbeit bedeutet dies, Barrieren zu identifizieren und den individuell verschiedenen Teilnahmehürden entgegenzuwirken. Stellt der Weg zu den Projekträumen oder die digitale Ausstattung zum Beispiel eine Barriere dar, werden Erstgespräche und Matchings auch zu Hause in der Wohnung oder in der Unterkunft der Mentees angeboten.

Voraussetzung, um dieser Haltung gerecht zu werden, ist allerdings, dass bestimmte Rahmenbedingungen geschaffen werden, für die finanzielle Ressourcen notwendig sind. Rebekka rät daher, dies direkt bei der Beantragung eines Projekts in das Budget miteinzuplanen. So wurden bei sei:dabei von Beginn an Kosten für Sprachmittlung in Gebärde, die Übersetzung von Texten in Braille oder die Gestaltung barrierearmer Angebote mitbeantragt.

 

„Es gibt nicht weniger, sondern andere Barrieren durch die Pandemie“

Die Barrieren, die durch die COVID-19-Pandemie neu entstanden sind, bestehen vor allem in mangelnder technischer Ausstattung oder digitaler Bildung. Einige Mentees richten sich etwa vor dem Matching zum ersten Mal eine E-Mail-Adresse ein. Um Teilhabe trotz fehlender Technik zu ermöglichen, verleiht das Projekt in Einzelfällen auch technische Endgeräte.

Während der Beziehungsaufbau zwischen Mentees und Mentor:innen auch digital gut funktioniert, bleibt die Vernetzung unter den Ehrenamtlichen hingegen auf der Strecke. Zudem ist es schwieriger, die Zielgruppe zu erreichen, da die Projektmitarbeiter:innen nicht, wie eigentlich vorgesehen, das Projekt in den Unterkünften vorstellen können. Kooperationen mit anderen Beratungsstellen und Sozialarbeiter:innen erweisen sich hier aber als sehr hilfreich, um potenzielle Mentees über das Projekt zu informieren. Allerdings können so nur Menschen erreicht werden, die bereits in das System eingebunden sind oder schon den Schritt in eine Beratungsstelle gemacht haben.

Die Verlagerung der Projektarbeit in den digitalen Raum hat aber auch zum Abbau von Barrieren beigetragen. Beschwerliche Wege fallen weg, die Hemmschelle, an Online-Angeboten teilzunehmen, ist geringer und der Wirkungsradius des Projektes hat sich erweitert. Dies bietet vor allem bei speziellen Anliegen der Mentees neue Möglichkeiten für passende Matchings. Rebekka berichtet von einer Familie, deren Sohn gehörlos ist und nun in der Schule die Deutsche Gebärdensprache lernt. Der Wunsch der Eltern war es, hier den Anschluss mit dem Sohn nicht zu verlieren und ebenfalls die Deutsche Gebärdensprache zu lernen. Durch die gezielte Suche auf digitalen Plattformen konnte eine passende Person außerhalb von Berlin gefunden werden.

 

Integra

Die Integra gGmbH ist ein Inklusionsbetrieb in Berlin-Reinickendorf und eine Tochtergesellschaft des VdK Berlin-Brandenburg. Die Organisation hat den Auftrag, die berufliche Integration von Menschen mit Behinderung in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu fördern. Seit 2013 bietet Integra unterschiedliche Patenschafts- und Mentoring-Projekte für verschiedene Zielgruppen an. Dabei ist aufgefallen, dass es für Menschen mit Fluchterfahrung und einer Behinderung grundsätzlich nur sehr wenige Angebote gibt. Daraufhin wurden ab 2016 ein größeres Projekt zur beruflichen Orientierung und ein kleineres Peer-to-Peer-Mentoring-Projekt initiiert. Die Learnings aus den bisherigen Projekten sind die Grundlage für die erfolgreiche Umsetzung des Projektes sei:dabei, das von der Aktion Mensch und der Stiftung Parität gefördert wird.

https://www.integra-seidabei.de/

Christine Langer

Christine Langer ist bei der Stiftung Bürgermut als Projektkoordinatorin bei openTransfer #Patenschaften tätig. Sie studierte Internationale Entwicklung und Koreanologie in Wien und Seoul (Südkorea) sowie Gender Studies in Berlin (MA Gender Studies). Während ihrem Studium begann sie beim Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg (LSVD) zu arbeiten wo sie nach ihrem Abschluss das Mentor:innen Programm für queere Geflüchtete leitete. Privat engagiert sie sich im Bereich (Queer-)Feminismus und Fußball.

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