Gedenken & Gestalten: Rückblick MUT-Reise 2023

Unsere dritte MUT-Reise führte uns ins östliche Sachsen-Anhalt. In Dessau, Köthen und Halle trafen wir auf inspirierende Menschen und Projekte und lernten dabei verschiedene Facetten des Muts kennen. Als rund 14-köpfige Reisegruppe tauschten wir uns intensiv mit den lokalen Akteur:innen aus und ließen uns von ihren Ideen und Erfahrungen inspirieren, um Mut in konkrete und wirksame Vorhaben umzusetzen.

Station 1: Dessau-Roßlau

Dessau-Roßlau ist eine kreisfreie Stadt in Sachsen-Anhalt, die 2007 durch die Fusion der Städte Dessau und Roßlau entstand. Mit etwa 80.000 Einwohnern liegt die Stadt am Zusammenfluss von Elbe und Mulde und ist – neben Weimar – vor allem als Wiege des Bauhauses bekannt. Doch als wir uns auf den Weg machten, hatten wir noch weitere Begriffe im Kopf: Engagierte Stadt, Summer of Pioneers und offensive Gedenkkultur.

Unser erster Treffpunkt war das mitmach.lokal im Stadtzentrum. Hier begrüßte uns Kathrin Hinze, die als Mitarbeiterin der Stadtverwaltung vor allem die Engagierte Stadt Dessau-Roßlau koordiniert und sich mit viel Herzblut für das Miteinander & die Vernetzung vor Ort einsetzt. Gemeinsam starteten wir unsere Reise mit einem Mittagessen im mitmach.lokal, einem Engagementzentrum, das in den Räumen einer ehemaligen Bäckerei untergebracht ist und die Innenstadt mit Leben füllt.

Hier hatten wir die Möglichkeit, uns als Reisegruppe besser kennenzulernen. Die Teilnehmenden, hauptamtlich wie ehrenamtlich, kamen aus ganz unterschiedlichen Regionen, von Sachsen-Anhalt über Sachsen und Brandenburg bis hin zu Berlin und Hamburg – ein bunter Mix aus Erfahrungen, Optimismus und Engagement.

Zum Abschluss unseres Besuchs im mitmach.lokal gab Claudia Heß, die Gleichstellungsbeauftragte von Dessau-Roßlau, einen Einblick in das Programm Dessau-Roßlau lebt Weltoffenheit und Vielfalt. Das Besondere an dem Vorhaben: Gleich drei Verwaltungen haben sich gemeinsam auf den Weg gemacht: Die Stadtverwaltung Dessau-Roßlau, die Hochschulverwaltung der Hochschule Anhalt und das in Dessau-Roßlau angesiedelte Umweltbundesamt. Mit verschiedenen Sensibilisierungs- und Schulungsansätzen wie den #Vielfaltsmontagen setzen die Verwaltungen nicht nur klare Zeichen, sondern tragen auch aktiv dazu bei, Verwaltungen vielfaltssensibler zu machen – für ihre Kund:innen wie für (potentielle) Mitarbeiter:innen. Mit den erarbeiteten Tools sind die Verwaltungen damit auch Impulsgeber:innen für Unternehmen in der Region.

Weiter ging es nun mit der Regionalbahn auf ins nahegelegene Köthen, um das Bündnis offenes Köthen und die Partnerschaft für Demokratie Köthen bei einem gemeinsamen Abendessen besser kennenzulernen.

Station 2: Köthen

Köthen (Anhalt) ist eine Kreisstadt in Sachsen-Anhalt mit rund 26.000 Einwohnern. Den meisten wenig bekannt, war die Reisegruppe über die historische Altstadt der Bach-Stadt mit einem wunderschönen Schloß sehr beeindruckt. Die Stadt machte überregional 2018 unrühmliche Schlagzeilen, nachdem infolge eines Übergriffs ein Mann verstarb und rechte Aufmärsche das Stadtbild prägten. 2019 trat der Satiriker Jan Böhmermann hier in den SPD-Ortsverein ein, um Bundesparteivorsitzender zu werden. Das führte in loser Folge und nach einem rechten Angriff auf die Planungen zum ersten Köthener CSD 2023 dazu, dass in seiner Weihnachtssendung 2023 eine halbe Million Euro für Demokratieprojekte in Köthen gesammelt wurden.

In einer weinumrankten Gaststätte trafen die MUT-Reisenden auf ein Dutzend engagierter Menschen vom Bündnis offenes Köthen und der Partnerschaft für Demokratie Köthen. In gemütlicher Atmosphäre tauschten wir uns über das Bündnis, die Bedeutung von Begegnungsorten und Feste sowie über die Herausforderungen und persönlichen Motivationen für Engagement aus.

Die aufregende Geschichte der Großspende und ihrer Folgen und der erfolgreiche erste CSD, der 2024 endlich stattfinden konnte, durfte dabei natürlich auch nicht fehlen. Der Abend zeigte eindrucksvoll, wie wertvoll gegenseitiger Austausch, Zuspruch und das Erleben von Tatkraft sein können. So gestärkt kehrten wir nach Dessau zurück, um dort zu übernachten.

Station 3: Dessau-Roßlau (Teil 2)

Der zweite Tag begann wieder im mitmach.lokal – diesmal mit einem Frühstück zusammen mit Teilnehmenden des Projekts Summer of Pioneers. Seit 2020 bringt dieses Programm kreative Köpfe und digitale Nomaden für mehrere Monate in Orte mit Leerstand, um neue Impulse zu setzen und innovative Arbeits- und Lebensmodelle zu erproben. 2024 stehen Dessau-Roßlau und Grabow (MV) im Fokus. Ziel ist es, die Regionen nachhaltig zu stärken, indem die Teilnehmenden gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung an Projekten arbeiten – und nach dem Sommer vielleicht für immer bleiben. In regelmäßigen digitalen Meet-ups können Interessierte mehr über den aktuellen Stand und Beteiligungsmöglichkeiten erfahren.

Nach diesem motivierenden Tagesstart folgte ein berührender Programmpunkt: Das Team der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt Anhalt/Bitterfeld/Wittenberg führte uns zu Gedenkorten in der Stadt. Der Rundgang begann an der Gedenkstele für Alberto Adriano. Als Vertragsarbeiter aus Mosambik in die DDR gekommen, wurde er am 11. Juni 2000 auf dem Rückweg von der Arbeit in Sichtweite seiner Wohnung von Nazis getötet. Auf eine kirchliche Initiative hin wurde hier schnell und unbürokratisch ein Gedenkort geschaffen, der seither ein aktiver Ort des Gedenkens ist.

Weiter ging es, mit Blick auf die Polizeiwache, in der Oury Jalloh im Januar 2005 umkam, in den Park am Dessauer Bahnhof. Hier steht in einem Beet der Gedenkstein für Hans-Joachim Sbrzesny. Der wohnungslose Mann wurde im August 2008 auf einer Bank ruhend von zwei Männern mit rechtsextremem Hintergrund zu Tode geprügelt. Gerichtlich wurde der Fall nie als Todesfall rechter Gewalt eingestuft – denn dazu war die erste Beweisaufnahme unvollständig. Aktivist:innen konnten jedoch nach langem Ringen erreichen, dass in Absprache mit der Stadtverwaltung ein Gedenkstein aufgestellt wurde, der den Kontext der Tat wiedergibt. Die Geschichten und Schicksale hinter diesen Gedenkorten machten tief betroffen und bereiteten uns auf unsere letzte Station in Halle vor.

Station 4: Halle (Saale)

Halle ist mit rund 240.000 Einwohnern die größte Stadt in Sachsen-Anhalt und ein wichtiges kulturelles und wirtschaftliches Zentrum. Ein schmerzhaftes Ereignis in der jüngeren Stadtgeschichte war der rechtsextrem motivierte Anschlag im Oktober 2019, bei dem ein Attentäter versuchte, an Yom Kippur in die Synagoge einzudringen und zwei Menschen auf offener Straße erschoss. Dieses schockierende Ereignis führte zu einer Welle der Solidarität und einem starken Zusammenhalt in der Zivilgesellschaft, die klare Zeichen gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus setzte. In den Wochen und Monaten nach dem Anschlag engagierten sich zahlreiche Initiativen, um die Stadt als weltoffenen und toleranten Raum zu positionieren.

Unsere Anlaufstelle war der Tekiez – Raum für Solidarität. Es ist der ehemalige Kiez-Döner, der durch den rechtsextremen Anschlag am 9. Oktober 2019 traurige Bekanntheit erlangte. Mach dem Angriff auf der Synagoge flüchete der Täter durch die Stadt. Dabei erschoss er zunächst Jana L., die sich ihm in den Weg stellte – und kurz darauf Kevin S. im damaligen “Kiez-Döner”.

Der Begegnungs- und Erinnerungsort unter dem Dach des Friedenskreis Halle e.V. ist eine Anlaufstelle für Betroffene, Gedenkende und Ausgangsort für eine offensive, betroffenen-zentrierte Gedenkkultur. Denn nicht immer sei das Gedenken an den Anschlag darauf ausgelegt, die Betroffenen in ihren Bedürfnissen abzuholen und der Vielfalt der mittelbar und unmittelbar Betroffenen gerecht zu werden.

Nur wenige Tage nach der MUT-Reise, am 9. Oktober, jährte sich der Anschlag zum 5. Mal. Der Tekiez, der durch die Stadt und andere Förderer bis heute keine dauerhafte Perspektive vor Ort erhält, wurde am Vorabend des Jahrestags Ziel eines antisemitischen Vorfalls – mit Hakenkreuzschmiererereien auf der Gedenktafel vor dem Haus. 

Obwohl die Reise mit diesen schweren Themen endete, gehen wir mit dem Gefühl nach Hause, dass wir denen Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit schenken konnten, die vor Ort täglich mit diesen Herausforderungen konfrontiert sind und nicht selten als „Nestbeschmutzer“ abgestempelt werden. Das darf nicht passieren – und wir wollen weiterhin gemeinsam daran arbeiten.

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Die MUT-Reise fand statt im Programm openTransfer Zusammenhalt. Dieses wird gefördert von der Stiftung Mercator. Es war nicht unsere erste MUT-Reise. 2023 reisten wir nach Zeitz, Gera und Altenburg (Reisebericht), 2022 waren wir in Neustrelitz und Teterow unterwegs (Rückblick). 

Friederike Petersen

Friederike Petersen ist in der Stiftung Bürgermut für die Projekte openTransfer Zusammenhalt und D3 - so geht digital verantwortlich. In ihren vorigen Tätigkeiten drehte sich alles um das Engagement und Ehrenamt - mit einem Schwerpunkt auf lebendigen ländlichen Räumen. Friederike studierte Politik- und Islamwissenschaft in Jena und gründete dort zwei Vereine.

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