MUT-Reise – Rückblick

2 Tage, 3 Orte, 6 Stationen: Mit rund 30 Personen begaben wir uns Ende September auf eine Reise zum MUT. In diesem Text zeichnen wir nach, auf welchen Mut wir in Zeitz, Gera und Altenburg getroffen sind, was uns Mut gemacht hat und wo wir noch mutiger werden können.

Foto: Jens Paul Taubert

ZEITZ: Mut zum Neustart

Ganz im Südosten von Sachsen-Anhalt, nur 40 Minuten südlich von Leipzig liegt Zeitz. Hier startete am 25. September 2023 die MUT-Reise, zu der das Team von openTransfer Zusammenhalt gemeinsam mit dem Team von Land in Sicht von Plattform e.V. eingeladen hatte. Die Reisegruppe, bestehend aus Ehren- und Hauptamtlichen, großen und kleinen Organisationen, Fördermittelgeber:innen und Fördermittelnehmer:innen, konnte schon auf dem Weg vom Bahnhof hinauf zur Alten Stadtbibliothek von Zeitz einen ersten Eindruck von der Stadt bekommen. 

Zeitz war einst ein wichtiges industrielles Zentrum, bekannt für Zetti Knusperflocken, Kinderwagen und mehr. Doch seit der Wende hat die Stadt eine besonders heftige Deindustrialisierung erlebt. Menschen zogen weg, beeindruckende Gründerzeitbauten und Industriedenkmäler verfallen. Zum Glück gibt es mutige Menschen, die hier einen Neustart wagen: Für sich, die Stadt, die Kreativszene und Menschen auf der Flucht.

Die Alte Stadtbibliothek…

Thomas Haberkorn hat als gebürtiger Zeitzer, der wegzog, den Neustart gewagt. Er kehrte zurück, engagierte sich in Projekten, bespielte Räume und Häuser: Bis er mutig – oder, wie er selbst sagt, vielleicht auch übermutig – selbst mit seinem Projektpartner Ralf Wagener Fakten schuf. Gemeinsam retteten sie durch ihren Kauf die Alte Stadtbibliothek vom Immobilienmarkt und schufen einen Freiraum mitten in der Stadt. Im riesigen “Kunsthaus Zeitz” finden jetzt nicht nur Künstler:innen Platz, sondern auch jede Menge Veranstaltungen und Begegnungen statt. 

Mit den beiden Machern sowie der Zeitzer Quartiersmanagerin Anke Wagener sprachen wir darüber, warum inklusive, offene Begegnungsräume, die nicht von politischen Förderentscheidungen abhängig sind, in diesen Zeiten wichtiger denn je sind. Wir sprachen über die Kraft von Rückkehrenden, die an “ihren Ort” glauben und die Kraft mitbringen, Neues zu machen. Darüber, dass genau solche Vorbilder es auch für andere leichter machen, den Neuanfang zu wagen. Ein weiterer wichtiger Punkt: Als Freiraum-Pionier mit neuen Konzepten ist der Start nicht immer leicht. Entmutigende Momente gehören dazu. Aber: Menschen und Netzwerke geben Mut – und in Zeitz passiert auch abseits der Alten Bibliothek gerade einiges!

… und der Circus Upsala

In Zeitz erwartete uns noch eine weitere Station, die im Zeichen des Neustarts steht: In einer großen Garage residiert der russische Circus Upsala. Der Circus, der in Sankt Petersburg vor allem mit Straßenkindern und benachteiligten Jugendlichen arbeitete, war schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine wiederholt zu Sommer-Zirkus-Akademien in Zeitz zu Gast. Doch mit Kriegsausbruch suchten die Artist:innen und Pädagog:innen eine dauerhafte neue Residenz. Diese fanden sie mit Hilfe von Ralf Wagener in Zeitz. Er hatte durch seinen persönlichen Kontakt nicht nur die Sommerresidenzen ermöglicht; mit viel Durchhaltevermögen sorgte er mit anderen Zeitzer Menschen für Aufenthaltsgenehmigung, Unterkunft und ein deutsches vereinsrechtliches Dach für die Zirkusorganisation.

In der alten Garage werkelt das Upsala-Team nun nicht nur an einem Zentrum für zeitgenössischen Zirkus, sondern trainiert auch an fünf Tagen die Woche mit rund 50 Kindern und Jugendlichen aus ukrainischen, syrischen und afghanischen Familien, die ihr neues Zuhause in Zeitz gefunden haben, sowie mit Zeitzer Kindern, deren Familien schon lange hier wohnen. Mit den Kindern und als professionelle erwachsene Artist:innen bespielt der Zirkus in verschiedenen Performances auch die Zeitzer Stadt und greift dabei die Geschichte ihrer Häuser auf. Wie Trapezkunst aus dem Wohnhausfenster und eine Slackline in 10 Meter Höhe über dem Marktplatz aussieht, zeigt dieses Video.

GERA: Vom Mut, gegenzuhalten

In raschem Schritt ging es zum Zug in das nur 23 Zugminuten entfernte Gera, wo unsere nächsten Gesprächspartner:innen auf uns warteten. Gera ist Teil der Thüringer Städtekette Erfurt –  Weimar – Jena – Gera, und steht dabei etwas im Schatten ihrer Schwestern. Die Stadt hat eine starke rechte Szene, die auch Gestalter:innen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Vielfalt immer wieder unter Druck setzt.

#GoldStattBraun Gera und die Häselburg

Ziel der MUT-Reise in Gera war die Häselburg. Sie ist ein beeindruckender, verwinkelter Bau, der seit seiner kulturellen Neubelebung Platz hat für Wohnraum für Künstler:innen und Gäste, für Büros, Ateliers, Proberäume und Werkstätten für die Kreativwirtschaft. Auch die Kunstschule Gera und ein Medienbildungszentrum sind hier zuhause. Das selbsternannte Ziel: “ein kreativer, multifunktionaler Kulturort, der als offener Raum der Demokratie in der Innenstadt von Gera fungiert und sich als Bollwerk gegen die regional starken rechten Tendenzen behauptet.”

In Clubatmosphäre, im Alten Wannenbad der Häselburg, trafen wir auf eine Gruppe Geraer Engagierter, die diesen rechten Strukturen etwas entgegensetzen, sich für Vielfalt und Teilhabe in der Stadt einsetzen. Mitglieder und Mitarbeitende des Bündnis Gold statt Braun Gera, des Bündnis AntiRa, des Friedensbündnisses, der Geraer Bundeszentrale für Politische Bildung und weiterer Initiativen sprachen mit uns über ihren Mut und die Ausdauer, sich demokratiefeindlichen Strukturen entgegenzustellen. 

In der Diskussion wurde klar, dass es alle braucht, die etwas gegen die Gefährdung unserer Demokratie von rechts machen: Die, die auf die Straße gehen genau wie die, die in praktischer Arbeit marginalisierte Personen unterstützen. Deutlich wurde, dass das Engagement in einem derart belastenden und teils bedrohlichen Themenfeld oft biografisch motiviert ist. Aus familiärer Tradition, aus Angst um betroffene Familien und Freund:innen und die eigene Freiheit. Gleichzeitig wird all das durch die Exponierung als Aktivist:in auch bedroht. Umso wichtiger ist es, dass viele Menschen ihre Stimme erheben und so die Einzelnen schützen.

“Mit dem Bild einer offenen Gesellschaft und der Hoffnung auf eine bessere Welt schöpfe ich Kraft und Mut für meine Arbeit”, fasste eine Diskussionsteilnehmerin zusammen, warum sie trotzdem nicht aufgibt. Besonders betonten die Diskussionsteilnehmenden aber, dass sie vor allem ein Zusammenarbeiten und Bündnisse schließen mit gleichgesinnten Gruppen stark macht und ein Zeichen setzt, dass Gera nicht nur braun ist. 

Unterwegs in Gera

Auf dem Weg zum Abendessen konnte ein Großteil der Reisegruppe sich auch selbst ein Bild machen, wie groß die rechte Bewegung in Gera ist: Durch die Innenstadt “spazierten” mehrere hundert Personen mit Reichsbürger-Fahnen, AfD-Plakaten und anderen eindeutig der rechten Szene zuzuordnenden Symbolen. Ein beklemmendes Bild nach dem intensiven Gespräch in der Häselburg.

Mit einem gemeinsamen Abendessen mit der Stiftung Bürger für Bürger zur Frage, wie Stiftungen die Zivilgesellschaft in Ostdeutschland bestmöglich in ihrem Wirken unterstützen können, endete ein langer erster Reisetag.

ALTENBURG: Mut, alle mitzunehmen

Von Gera ging es am nächsten Morgen weiter nach Altenburg im Nordosten Thüringens. Nicht weit vom Markt hat die Farbküche Altenburg ihr Domizil. Zwischen quietschbunter Kunst und Kreativzubehör, im Laden- und Werkstattraum unter Glasbaustein-Kuppel inspirierten Anja Fehre und Susann Seifert (Erlebe was geht gGmbH) die Reisegruppe.

Foto: Jens Paul Taubert

Von der Farbküche…

Das Thema Mut zeigte sich auch in der Farbküche in vielen Facetten. Die beiden Frauen haben ihre eigenen Sicherheiten losgelassen – in diesem Fall feste Stellen in der Stadtverwaltung – um ihrem eigenen “Warum” zu folgen. Gestartet mit kreativen Gestaltungsangeboten wurde daraus schnell mehr: Mit dem Projekt Stadtmensch Altenburg hat sich die Stadt einen Namen für erfolgreiche, kreative und partizipative Stadtentwicklung gemacht. Mit Mitmachaktionen in einem dezentralen Akteursnetzwerk, mit Bürgerbudgets, die über Dart-Spiele zufallsverteilt wurden bis hin zum großen Stadtmenschen-Festival haben sie mutige neue Wege für einen – rein demographisch und sozioökonomisch – prekären Raum erprobt und viele Menschen zum Mitmachen bewegen können. Das A&O: Der gute Kontakt in die Stadtverwaltung. Auch mit engagierten Verwaltungsgestalter:innen aus Altenburg konnten wir im Rahmen der Reise über den Mut sprechen, sich neben dem Verwalten auch dem Gestalten zu widmen.

Foto: Jens Paul Taubert

… ab in die FACKtory

Inspiriert machte sich die Gruppe auf einen kurzen Stadtspaziergang, vorbei am Mitgliederladen des Wolang e.V. und dem Entwicklungsquartier “Oberer Markt” quer über den Marktplatz und an der prachtvollen Kirche entlang zu einer Stadtvilla , in der sich die letzte Station der Reise befand: Die FACKtory von FACK e.V. versteht sich als einen Ort, an dem aus Ideen Wirklichkeit wird. Junge Menschen können in diesem offenen Haus zu selbstbestimmten jungen Erwachsenen werden und Zukunft gestalten. 

Ein ausgeklügeltes Konzept mit vielen Gamification-Ansätzen holt Jugendliche aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen ab und macht sie zu handelnden Personen: Zum Beispiel mit einem offenen Jugendfonds, den Jugendliche selbst verwalten und bis zu 40.000 Euro für junge Projektideen ausschütten können. Mutig – und erfolgreich, davon konnte sich die Gruppe selbst überzeugen. Dadurch, dass der normale Betrieb in der FACKtory bei unserem Besuch weiterging, spürte die Reisegruppe auch direkt das Empowerment unter den jungen Altenburger:innen, die das Jugendhaus regelmäßig besuchen.

MUT zum Mitnehmen

Mit einem MUT-Workshop endete die Reise. Aus dem Workshop gingen alle Teilnehmenden mit einem Bild und einem Satz heraus, der ihnen auch in schwierigen Zeiten Mut geben kann und deutlich macht, warum sie dranbleiben wollen: Ein persönlicher MUT-Anker.

Mut tut gut: Unserer Gesellschaft und uns selbst. Je mutiger wir auf bedrohliche Dinge zugehen, umso kleiner werden sie oft im Näherkommen, sagte eine Teilnehmerin während der Reise. Der Mut zu machen, gegenzuhalten, weiterzumachen, auszuprobieren hat uns inspiriert, ob bei den besuchten Projekten oder den beeindruckenden Mitreisenden. Und den MUT nehmen wir auch ganz physisch mit nach Hause.

Foto: Jens Paul Taubert

Dies war nicht unsere erste Reise. 2022 waren wir in Neustrelitz und Teterow unterwegs. Hier geht es zum Nachbericht. openTransfer Zusammenhalt ist ein Projekt der Stiftung Bürgermut und wird gefördert von der Stiftung Mercator.

Friederike Petersen

Friederike Petersen ist in der Stiftung Bürgermut für die Projekte openTransfer Zusammenhalt und D3 - so geht digital verantwortlich. In ihren vorigen Tätigkeiten drehte sich alles um das Engagement und Ehrenamt - mit einem Schwerpunkt auf lebendigen ländlichen Räumen. Friederike studierte Politik- und Islamwissenschaft in Jena und gründete dort zwei Vereine.

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