Für wen skalieren wir eigentlich? Ein Plädoyer für und gegen eine Verbreitung
Was eigentlich verbirgt sich hinter dem Begriff „Skalierung“? Für welche Organisationen ist es eine Option und wer sollte die Hände davon lassen? In dem doppelten Plädoyer stecken etliche Erkenntnisse aus 15 Jahren Beratung der Autorin.
Als ich 2007 anfing, mich beruflich mit der Skalierung gemeinnütziger Angebote zu beschäftigen, begegnete mir oft Skepsis: „Warum sollten wir Projekte, in die wir so viel Arbeit gesteckt haben und bei deren Entwicklung wir viele schlaflose Nächte verbracht haben, einfach so an andere Organisationen weitergeben? Was ist, wenn jemand unsere Idee klaut? Und was haben wir eigentlich davon, wenn wir skalieren, außer jeder Menge zusätzlicher Arbeit?“ Wenn ich hier von Skalierung spreche, meine ich vor allem die Verbreitung der eigenen Wirkung, indem man die Reichweite des sozialen Angebots erweitert. Dies kann in Kooperation mit Partner:innen vor Ort geschehen, durch die offene Weitergabe der erprobten Prozesse und der Erfahrungen oder sogar durch den Aufbau eigener Standorte.
Heute beschäftige ich mich nach wie vor mit der Frage, wie gemeinnützige Organisationen ihre Lösungen in die Fläche bekommen können. Zugegebenermaßen begegnen mir noch immer Menschen, die ihre Ideen nicht aus der Hand (beziehungsweise nicht aus ihrem Kopf) geben wollen. Die Mehrheit allerdings ist mittlerweile bereit, ihre Angebote zu skalieren.
Es ist gut, dass immer mehr Organisationen sich öffnen und versuchen, Lösung gesellschaftlicher Probleme groß zu denken. Denn nur so können wir sie wirklich in den Griff bekommen. Doch nicht immer führt Skalierung zur intendierten Wirkung. Gut gemeint, heißt nicht zwingend gut gemacht.
Ein Plädoyer für die Skalierung guter Projekte
Wenn ich zurückblicke auf die Antworten einiger Organisationsvertreter:innen, die sich weigerten, ihr Wissen zu teilen, kann ich die Sorgen verstehen. Ich glaube aber, dass sie oft zu kurz gedacht haben. Bei der Skalierung geht es um mehr, als das Rad nicht neu erfinden zu müssen. Es geht vor allem darum, mehr Menschen zu erreichen und damit die eigene Wirkung zu erhöhen. Indem z. B. die eigenen Angebote in mehreren Städten umgesetzt werden, können gemeinnützige Organisationen einen größeren Beitrag zur Lösung eines gesellschaftlichen Problems leisten.
Sehr anschaulich wird das am Beispiel von Ackerdemia, ein Verein, der an unserem Stipendienprogramm Accelerator teilgenommen hat. Die Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, Kindern Wertschätzung für Natur und Lebensmittel nahezubringen. Das tut sie, indem sie u. a. mit ihrem Programm „Gemüseackerdemie“ in Schulen und Kitas Obst und Gemüse anbaut. Gemeinsam mit Lehrer:innen und Engagierten säen Kinder Samen, beobachten, wie ihr Gemüse wächst und ernten es am Ende selbst. Gestartet ist die Gemüseackerdemie 2013 mit 16 Schüler:innen. Mittlerweile ackern sie an 850 Lernorten und erreichen damit über 36.000 Kinder (Stand 2021). Wären sie in nur einer Stadt geblieben, hätten sie diese Zahl niemals erreichen können. Die Skalierung hat also geholfen, ihre Wirkung um ein Vielfaches zu potenzieren – und das nicht nur an einem Ort, sondern in ganz Deutschland und darüber hinaus.
Wir können also festhalten, dass durch die Skalierung mehr Menschen von der anvisierten Wirkung profitieren und Herausforderungen nicht nur an einem, sondern gleich an mehreren Orten angegangen werden. Es ist diese Hebelwirkung die im besten Fall zu einer systemischen Veränderung führt.
Ein Plädoyer gegen die Skalierung guter Projekte
Es gibt aber auch gute Gründe, die gegen eine Skalierung sprechen: zum Beispiel, wenn das Ego droht, den Skalierungsprozess zu kapern. Mit Ego meine ich nicht das abgehobene Ich, das meint, es kann und weiß alles besser als andere, sondern die Ich-Perspektive, die die Skalierung nur von den Bedarfen der Organisation her denkt, anstatt von der Wirkung. Das kann dazu führen, dass das falsche Skalierungsmodell gewählt wird, sich Organisationen auf den Weg zur Skalierung machen, die dem Vorhaben gar nicht gewachsen sind oder am Ende Projekte groß werden, die nicht die intendierte Wirkung erreichen. All das verhindert genau das, was den großen Mehrwert von Skalierung darstellt: dass Ressourcen effektiver eingesetzt werden, um gesellschaftliche Herausforderungen zu lösen.
Wer erinnert sich noch die Organisation Big Brothers Big Sisters? Von 2007 bis Ende 2014 war das Mentorenprogramm eines der erfolgreichsten Skalierungsprojekte Deutschlands. 1.187 Mentor:innen und Mentees betreute die Organisation in zahlreichen Städten. Doch dann war irgendwann Schluss, denn der Hauptförderer tauschte die großen Brüder und Schwestern gegen „Balus“ ein. Der Grund: Das Mentorenprogramm Balu und Du erzielte mit weniger Ressourcen mehr Wirkung. Ich möchte in keiner Weise für Preisdumping im gemeinnützigen Sektor plädieren, aber bevor wir skalieren, sollten wir uns die Frage stellen, in welcher Relation die Ressourcen – sowohl Geld als auch Personal und Zeit – die wir in Aktivitäten stecken, zu der Wirkung stehen. Das gilt vor allem, wenn man durch eine Skalierung mit anderen Organisationen, die eine ähnliche Mission haben, in Konkurrenz um Fördermittel und Zielgruppen tritt.
Ein weiteres Problem ergibt sich, wenn Organisationen genau vorgeben möchten, wie etwas an anderen Orten umgesetzt werden soll. Sie geben Standards vor, legen fest, wann was passieren muss und besiegeln diese Anforderungen mit einem Vertrag. In einigen Fällen ist das wichtig. Hinderlich wird es aber, wenn wir unser Projekt nicht gründlich und regelmäßig unter die Lupe zu nehmen und schauen, wie und wo es noch optimiert werden kann.
Ein bisschen Demut
Dass immer mehr Organisationen ihre erprobten Projekte in die Fläche bringen und so zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen beitragen, ist grundsätzlich gut! Doch auch die beste Intention entfaltet nicht immer die gewünschte Wirkung. Deshalb ist es wichtig, mit ein bisschen Demut an den Skalierungsprozess heranzugehen.
Seid offen anderen Lösungen gegenüber, hinterfragt euer Projekt und überlegt, wie ihr eure Wirkung am besten verbreiten könnt. Das kann, muss aber nicht die Eröffnung eigener Standorte oder die Weitergabe von vorgegebenen Prozessen und Standards sein. Ein Weg kann auch sein, dass ihr gemeinsam mit anderen Organisationen eure Angebote weiterentwickelt. Ein schönes Beispiel hierfür ist eine Kooperation zwischen U25 vom Caritasverband und der JugendNotmail, zwei weitere Alumni unseres Accelerator-Programms. Beide Angebote richten sich an Jugendliche in Not, jedoch mit unterschiedlichen Fokussen. Während U25 den Schwerpunkt auf die Suizidprävention von Jugendlichen bis 25 Jahre legt, leistet die JugendNotmail Hilfe in allen Lebenslagen für Teenager bis 19 Jahre. Außerdem arbeiten sie mit Fachkräften, also Psycholog:innen und Pädagog:innen, zusammen, während U25 auf die Beratung durch Gleichaltrige setzt. Beide haben die Lücken in ihrem eigenen Angebot erkannt: bei der JugendNotmail die Altersgrenze und bei U25 der Fokus allein auf Suizidprävention. Beide Organisationen erhalten außerdem weit mehr Anfragen, als sie bedienen können. Anstatt die eigenen Angebote auszuweiten und so noch mehr Jugendliche zu erreichen, haben sie sich dafür entschieden, zusammen das Angebot „Gemeinsam statt Einsam“ ins Leben zu rufen, um in Zeiten von Corona ihre Zielgruppen noch zielgenauer zu unterstützen. Das ist ein wunderbares Beispiel, bei dem Organisationen sich selbst zurückgenommen haben, um gemeinsam mit anderen ihre Wirkung zu skalieren.
Nehmt euch also viel Zeit bei der Entwicklung eurer Skalierungsstrategie. Überlegt, welche Methode die größte Wirkung erreicht und was ihr stemmen könnt. Findet heraus, was in Kooperation mit anderen möglich ist. Das bedeutet dann zwar auch, das Rampenlicht mit anderen Organisationen zu teilen, aber auf die Bühne gehört eigentlich sowieso die Menschen, für die ihr euch engagiert – und zwar am besten so vielen, wie die Bretter tragen können!
Der Artikel erschien erstmalig 2020 auf der Website der tbd*-Community.