demoslam – Verstehen, ohne einverstanden zu sein
Unser aktuelles Accelerator-Stipendiatenprogramm demoslam ist mehr als ein unterhaltsames Dialogformat. Das Konzept: Menschen unterschiedlicher Meinung diskutieren vor Publikum – nicht um den anderen zu überzeugen, sondern um ihn zu verstehen.
Kann man stolz sein auf das Land, aus dem man kommt? Beim deutsch-russischen demoSlam in Jekaterinburg verhandelten Leonie und Viktoria ihr Verhältnis zu Patriotismus auf der Bühne. Der Russin Viktoria wurde von ihrer Mutter eingeschärft, die russische Kultur und Sprache nicht zu vergessen, als sie ihr Studienjahr in Berlin antrat. Die Deutsche Leonie sollte auf sich achtgeben und viel Spaß haben, als sie zum Studieren nach Wladiwostok ging. Für die eine bedeutet Patriotismus Liebe zur Kultur, zur Sprache, zur Familie. Der anderen wird beim Anblick von schwarz-rot-goldenen Fahnen mulmig zumute. Heimweh jedoch kennen beide.
In der Ferne haben sie ihre Familien, die Natur und den Geschmack von vertrautem Essen vermisst. Was an diesem Abend im Herbst 2018 gelang, ist ein lockeres Gespräch über ein Thema mit Sprengkraft. Nicht selten verlaufen Unterhaltungen zu heiklen Begriffen wie Patriotismus unter Bekannten, in Familien oder am Arbeitsplatz erregt, beginnt der Austausch unversöhnlich und endet in einer Sackgasse. Oder er wird gar nicht erst gesucht.
Wie geht Verständigung?
Der demoSlam setzt auf Verständigung statt Streit. Das Format hat die promovierte Kultur- und Kommunikationswissenschaftlerin Evgeniya Sayko (s. Foto) entwickelt. Während ihres Studiums beschäftigte sie sich mit dem deutsch-russischen Verhältnis und den Vorurteilen auf beiden Seiten. Als sie 2011 nach Berlin zog, begleitete sie das Thema.
„Wir benutzen in Deutschland und Russland die gleichen Worte: Toleranz, Menschenrechte, Demokratie. Nur bedeuten sie in beiden Ländern etwas Unterschiedliches“, erzählt sie. Ob im deutsch-russischen Kontakt oder auch innerhalb der deutschen Gesellschaft: Immer mehr Themen spalten die Gesellschaften. Die Lager in Austausch miteinander zu bringen, ist schwer geworden. „Ich habe mich gefragt, wie das gelingen kann und wie wir konstruktiver über schwierige Themen reden können“, so Sayko.
Ihre Suche nach einer Antwort begann 2017 im Rahmen des Hertie-Innovationskollegs. Dies ist ein einjähriges Stipendium plus Budget für herausragende Projektideen. Sayko forschte, sprach mit Expert:innen und analysierte das Problem. Dabei stellte sie fest, dass in Streitgesprächen oft ein Kampf um Werte geführt wird. „Die Wertesprache, die wir häufig verwenden, ist konfrontativ. Sie definiert Unterschiede und schließt aus. Indem zum Beispiel von europäischen Werten gesprochen wird, werden diese vereinnahmt und dienen der Abgrenzung“, erläutert Sayko und ergänzt: „Gleichzeitig sind viele Begriffe inzwischen ziemliche Worthülsen. Mir war es wichtig, diese wieder mit Leben zu füllen.“ Ihr schwebte eine Methode vor, die komplexe Inhalte unterhaltsam und zugänglich vermittelt und es ermöglicht, unverkrampft über Streitthemen zu sprechen.
Sie orientierte sich am Format Science Slam, das sie in Russland organisiert hatte und mit dem es gelingt, wissenschaftliche Themen verständlich zu transportieren. Am Ende des einjährigen Prozesses, in dem sie mehrere Prototypen entwickelt und diese mit Teilnehmer:innen durchgespielt, reflektiert und optimiert hatte, stand das Format demoSlam. Es bietet Raum für Austausch, vermittelt rhetorisches Handwerkszeug und öffnet sich mit einer Veranstaltung zum Abschluss einem Publikum.
In Austausch kommen
Am Anfang steht ein mehrstündiger bis mehrtägiger Workshop, in dem sich die Slammer:innen kennenlernen, kontroverse Themen aushandeln, Paare bilden, diskutieren und die gemeinsame Präsentation erarbeiten. „Hier passiert das Wichtigste“, sagt Sayko. „Die Teilnehmer:innen dürfen alles sagen. Das ist die erste Herausforderung. Die zweite Herausforderung ist es, bei ihrer persönlichen Perspektive zu bleiben.“ Dabei begleitet sie ein Team von Trainer:innen.
Den zehnminütigen Auftritt können die Teilnehmer:innen kreativ angehen: Requisiten, Fotos, eine Präsentation oder schlicht ein dunkler Saal sind erlaubt. Hier geht es nicht darum, das Gegenüber und das Publikum zu überzeugen und die besten Argumente entlang der Konfrontationslinie aufzubauen, sondern darum, einen Dialog zu beginnen und Unterschiede ebenso wie Gemeinsamkeiten sichtbar zu machen. „Verstehen, ohne einverstanden zu sein“, nennt Sayko das.
Wie das gehen kann, haben zwei junge Männer im Frühling 2020 beim demoSlam im Rahmen des Projekts „Sachsen im Dialog“ erlebt. In Form kurzer Statements tauschten sie sich auf der Bühne über ein Thema aus, an dem sie selbst beinahe gescheitert wären: Gesprächskultur. Der eine Aktivist bei Extinction Rebellion, der andere AfD-nah. Dass sie über mehrere Tage in einen Austausch miteinander gehen könnten, daran hatten beide anfangs großen Zweifel. Auf der Bühne lehnte der Klimaschützer dann zwar nach wie vor jede politische Aussage seines Gegenübers ab, konnte jedoch dessen Bedürfnis nach Stabilität verstehen.
Zukunftsperspektiven
Warum lohnt es sich, diese Anstrengung auf sich zu nehmen? Prinzipien für Gespräche aufzustellen und Techniken zu erlernen? Sayko sagt, dass die Gesellschaften lange am Konsens ausgerichtet waren, die Differenzen jedoch sichtbarer werden. Wir alle stehen vor der Aufgabe, Dissens zuzulassen, das Mosaik an Ansichten anzuerkennen und Unterschiede „so zu verarbeiten und zu integrieren, dass sie wirklich bereichern“, erklärt sie. Oft hat Sayko beobachtet, dass eine große Entspannung eintritt, wenn es gelungen ist, im Gespräch zu bleiben.
„Wir alle haben ähnliche Bedürfnisse wie Frieden und Wohlstand. Nur die Wege dahin unterscheiden sich. Über diese Wege sollten wir sprechen. Für die Teilnehmer:innen ist es eine wichtige Erfahrung, ihre Sichtweise zum Ausdruck zu bringen und gehört zu werden.“
Wenn die Menschen beginnen, zuzuhören und aus ihrer Perspektive berichten, hat das für Sayko etwas Magisches. Ihr Traum ist es, dass der demoSlam genauso bekannt und beliebt wird wie der Poetry Slam und der Science Slam. Gemeinsam mit Cornelia Reichel hat sie 2019 „Magnet – Werkstatt für Verständigung“ gegründet. Zum einen führt Magnet demoSlams für Organisationen durch, zum anderen arbeitet das gemeinnützige Unternehmen an der Skalierung der Veranstaltung und wird dafür unter anderen in unserem Projekt openTransfer Accelerator qualifiziert und gefördert.
In Sachsen und Baden-Württemberg beginnt eine erste Skalierungsphase. Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung übernehmen die Slammer:innen selbst. Viele, die wie Leonie und Viktoria einmal teilgenommen haben, möchten danach weitermachen, demoSlams organisieren oder als Trainer:innen andere durch den Prozess begleiten. „Ich bin auf jeden Fall gestärkt worden“, sagt eine Slammerin nach ihrem Auftritt. Sie möchte nun häufiger den Austausch mit anderen suchen. Die Magie des demoSlams scheint auch über den Abend hinaus zu wirken.
Dieses Organisationsportrait wurde von Elisabeth Wirth verfasst und erstmalig in unserem E-Book “Zusammenhalt” veröffentlicht. Dort finden sich noch mehr Portraits von Organisationen, die sich für mehr Zusammenhalt und eine vielfältige und debattenreiche Gesellschaft einsetzen.
Weitere Informationen zum openTransfer Accelerator gibt es hier.