Big brothers Big sisters – Ende mit Schrecken

Big Brothers Big Sisters macht dicht. Die International bekannte Mentorenorganisation offenbart damit ein Problem der ganzen branche: Aufwand und Wirkung sind kaum messbar.

„Mentorinnen und Mentoren sind entsetzt. Einige der Kinder haben Angst, ihre Mentorin oder IHREN Mentor zu verlieren. Eltern sind ratlos. Regionale Büros sind von einem auf den anderen Moment geschlossen worden, die jeweiligen Internetseiten nicht mehr erreichbar, ebenso die Mitarbeiter und MentorenBetreuer, die mehrheitlich entlassen wurden.“

Dieser Aufschrei ist auf Facebook nachzulesen. Er stammt von ehrenamtlichen Mentoren der Patenschaftsorganisation Big Brothers Big Sisters Deutschland (BBBS). Das Großprojekt steht vor dem Aus. Von 34 Mitarbeitern sind nur noch 15 an Bord. Sie sollen bis Ende 2014 einen eingeschränkten Betrieb aufrechterhalten. Big Brothers Big Sisters wird abgewickelt.

Seit 2007 kümmert sich die gemeinnützige Big Brothers Big Sisters Deutsche Jugendhilfe gGmbH sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche nach dem Tandemprinzip. Ein ehrenamtlicher Mentor betreut ein gefördertes Kind, hilft bei schulischen Problemen, gestaltet gemeinsam mit dem Mentee Freizeit und Alltag.

BBBS gehört zu den Großen in diesem Engagementzweig, hatte bis dato 1.187 Mentoren und Mentees unter seinen Fittichen.

Die Bombe platzte unvermittelt. Am 5. September 2013 informierte BBBS-Geschäftsführer Dr. Christoph Glaser die Mentoren per E-Mail, dass sich der Hauptförderer, die Benckiser Stiftung Zukunft, aus dem Projekt zurückzieht. Bemerkenswert: Glaser ist in Personalunion Vorstand der Benckiser Stiftung und BBBS-Chef, er leitet also das Projekt und vertritt zugleich dessen Hauptförderer. Glaser hat sich quasi selbst den Geldhahn zugedreht. Ein Vorgang, der im Dritten Sektor einmalig sein dürfte.

Zu Wirkungslos, zu teuer

Die Begründung: BBBS entfalte eine zu geringe Wirksamkeit im Vergleich zu anderen Mentorenprojekten. Das überrascht, denn Big Brothers Big Sisters galt bisher allgemein als vorbildlich. Zu diesem Schluss kam auch das Berliner Analystenhaus Phineo, das BBBS mit seinem Qualitätssiegel „Wirkt!“ auszeichnete. Wie konnten sich die Zertifizierer so irren?

Auf welche Daten sich die selbstkritische Erkenntnis der Geschäftsführung stützt, ist nicht bekannt. Offenbar geht es vor allem um die Kosten. Mit rund 3.000 Euro soll die Arbeit eines Tandems bei BBBS laut gut informierter Kreise pro Jahr zu Buche schlagen. 1.200 bis 1.500 Euro gelten in der Mentoringszene als Durchschnitt. Glaser äußert sich zu den Zahlen nicht.

Kosten fallen trotz der rein ehrenamtlichen Arbeit der Mentoren an — unter anderem für deren Qualifizierung und Betreuung und für die Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit.

War Big Brothers Big Sisters doppelt so teuer wie andere Mentorenprojekte? Und wenn ja: War man auch doppelt so gut?

Andrea Dziemba fühlt sich vor den Kopf gestoßen. Seit anderthalb Jahren engagiert sie sich in Frankfurt für Big Brothers Big Sisters. Die Texterin trifft sich mit ihrem 9-jährigen Mentee Melinda. „Wir machen alles, worauf wir beide Lust haben, es gibt keine Regeln: vom Eierausblasen vor Ostern über Marmeladekochen im Sommer bis zum Zoobesuch ist alles dabei.“

Sie hat Zeit und Geduld in ihr Engagement gesteckt. Gemeinsam hat das Tandem Sprachbarrieren überwunden und Unsicherheiten gemeistert, mit dem Frankfurter Regionalbüro hielt Andrea Dziemba regelmäßig Rücksprache. Inzwischen ist eine echte Beziehung entstanden.

Die E-Mail, mit der das Ende von BBBS und die Schließung des Standortes in Frankfurt angekündigt wurde, hat sie total überrumpelt — erst vor Kurzem wurde noch das 5-jährige Jubiläum des Projekts gefeiert.

Unterdessen hat die Benckiser Stiftung schon ein neues Pferd im Stall. Die Fördergelder gehen künftig an das ebenfalls bundesweit tätige Projekt „Balu und Du“. Auch dieser in Köln ansässige Verein bietet Patenschaften zur Förderung benachteiligter Kinder an, allerdings mit einem anderen Konzept als BBBS. So setzt „Balu und Du“ ausschließlich auf junge Mentoren zwischen 17 und 30 Jahren und kann deshalb bei Weitem nicht alle Tandems von BBBS übernehmen.

Andrea Dziemba und viele andere BBBS-Mentoren fragen sich, warum die Förderung der Benckiser Stiftung nun einem Mentorenprojekt zugutekommen soll, das einen ganz anderen Ansatz verfolgt. Und was, fragt sie sich, wird mit all den bedürftigen Kindern aus der Altersgruppe über zehn Jahre, die „Balu und Du“ überhaupt nicht berücksichtigt?

Am kommenden Samstag trifft sie sich wieder mit Melinda. Sie hat keine Ahnung, ob deren Familie bereits informiert wurde. Nur eines ist klar: dass es mit den beiden weitergehen wird — auch ohne das Frankfurter BBBS-Büro.

Ein Projekt wickelt sich selbst ab

Warum der radikale Schritt, der für so viel Empörung und Verunsicherung sorgt? Christoph Glaser spricht von einer strategischen Neuausrichtung des Hauptförderers, der Benckiser Stiftung Zukunft. Sie schoss zuletzt zwei Drittel des Budgets von rund 3 Millionen Euro zu. Die Stiftung wolle weiterhin auf Mentoring setzen, aber ein Programm fördern, das mehr Kinder erreicht und eine größere Hebelwirkung hat. Glaser: „Balu erreicht 10-mal mehr Schüler als BBBS mit seinen strukturellen Schwierigkeiten.“

Glaser kam im Frühjahr 2012 als Geschäftsführer zu BBBS und merkte schnell, dass das Mentorenprojekt ungewöhnlich viel Geld und Manpower verschlingt. Er initiierte ein umfangreiches Umstrukturierungsprogramm, und tatsächlich gelang es, die Tandemzahlen deutlich zu erhöhen. Damit sei allerdings das Ende der Fahnenstange erreicht. „Hier war keine Wachstumsfähigkeit mehr zu erkennen“, sagt Glaser im Gespräch mit ENTER. Am Ende habe man auch bei anderen Förderern keinen Stich mehr machen können, weil sie die hohen Projektkosten nicht nachvollziehen konnten.

Für Glaser war klar, dass sich BBBS meilenweit von den Besten der Mentoringszene entfernt hatte. Ein anderes erfolgreiches Modell wie „Balu und Du“ zu kopieren und dann in den Wettbewerb zu treten, kam nicht infrage. Und so kam es zu einem vielleicht einmaligen Schritt in der deutschen Non-Profit-Szene: Christoph Glaser schlug den Stiftungsgremien vor, die gGmbH, deren Geschäftsführer er selbst ist, nicht weiter zu fördern und damit ihr Ende einzuläuten. Den inzwischen abgegriffenen Begriff „alternativlos“ verwendet er nicht, aber er schwingt doch in jedem Satz mit.

Auf der Suche nach dem Dritten Weg

Für Anne Kössler, Mentorin aus München, ist der Entschluss übereilt und schlecht kommuniziert. Sie dachte zunächst an einen schlechten Scherz, als sie die Nachricht vom Ende bekam. Nun initiiert sie den Protest auf Facebook mit: „Wir sind enttäuscht und wütend und können nicht nachvollziehen, warum ein Projekt, an dem so viele Freiwillige, Kinder und Eltern hängen, dichtgemacht werden soll.“

Eine neu gegründete Gruppe koordiniert auf der Plattform die Ansprache von Medien, den Schlagabtausch mit der Geschäftsführung und die Konzeption eines alternativen Modells. Ihrer Meinung nach wurde nicht ausreichend nach Alternativen gesucht. Zusammen mit anderen Mentoren will sie nun herausfinden, ob BBBS in Eigenregie weitergeführt werden kann. „Den perfekten Businessplan haben wir noch nicht, aber wir wollen, dass es weitergeht. Das Programm ist gut, das Matching funktioniert hervorragend.“

Kössler arbeitet seit drei Jahren mit einem 10-jährigen Mädchen, das in sehr schwierigen Familienverhältnissen lebt. „Wir fühlten uns immer gut betreut, wir wurden gefragt, wie es läuft, wo es Probleme gibt. Jeder war stolz, mit dabei zu sein.“

Von Äpfeln und Birnen

Auch Kenner der Non-Profit-Szene sind von der Entscheidung überrascht. Big Brothers Big Sisters genoss einen guten Ruf. Der Auswahlprozess war aufwendig, ebenso wie das Matching von Mentoren und Mentees. Die persönliche Beratung über die Regionalbüros wurde geschätzt.

Der Vorgang offenbart ein grundlegendes Problem aller Mentoring- und Patenschaftsprogramme. Das Verhältnis von Aufwand und Wirkung ist kaum messbar. Kann man wirklich zwei unterschiedliche Mentorenprojekte miteinander vergleichen und die „Stückkosten“, die jedes Tandem produziert, gegeneinander aufrechnen? Ohnehin sind die Kosten nur sehr schwer zu ermitteln.

Die meisten der über 50 „Balu und Du“-Standorte sind an Bildungseinrichtungen wie Universitäten oder Fachhochschulen angedockt. Mentoren dürfen nur zwischen 17 bis 30 Jahre alt sein. Die Netzwerkpartner stellen Eigenmittel und Personal zur Verfügung, rekrutieren die Mentoren, und das freiwillige Engagement wird im Seminarbetrieb reflektiert.

So entstehen beim Verein, der von Köln aus arbeitet, kaum Kosten. Gerade einmal drei Teilzeitkräfte arbeiten derzeit in der Geschäftsstelle. Insgesamt sind es jedoch an die 60 Stellen, die in das Projekt eingebunden sind, aber aus anderen Töpfen finanziert werden. Die Netzwerkpartner vor Ort haben gute Kontakte zu Förderern, kennen die lokalen Ehrenamts- und Freiwilligenszene sowie die Schul- und Bildungsszene.

Dr. Dominik Esch, Leiter der Geschäftsstelle von „Balu und Du“: „Wir setzen das Projekt nicht von oben auf, sondern gehen den umgekehrten Weg.“ Die bundesweite Verbreitung musste kaum aktiv betrieben werden, die Anfragen kamen von selbst. Esch ergänzt: „Durch die Förderung der Benckiser Stiftung Zukunft werden wir an dieser Methodik nichts ändern.“

Ganz anders BBBS: Das Programm kennt bei den Mentoren kaum Einschränkungen, auch das Alter der Kinder und Jugendlichen ist nicht reglementiert. Über die Zentrale in Stuttgart sowie die Regionalbüros wurden Interessierte auf Herz und Nieren geprüft, an Kinder und Jugendliche vermittelt und im ersten Jahr intensiv begleitet. Es gab regelmäßig Feste und Veranstaltungen. Sämtliche Ausgaben, darunter auch für die zuletzt 34 Mitarbeiter, lagen direkt bei der Organisation. Ein Selbstläufer wurde das Programm nie, und ein großer Teil der Ausgaben floss in die Akquise neuer Freiwilliger.

Die Frage, die dahinter steht: Darf man ein Projekt, das ungewöhnlich teuer ist, weiterbetreiben, oder muss man dort Geld reingeben, wo die meisten Menschen erreicht werden? Die Geschäftsführung von BBBS hat die Frage eindeutig beantwortet. Für andere liegt der Fall weniger klar, die genauen Kosten sind kaum zu errechnen und auch die Tatsache, dass in den kommenden Jahren viele Tausend Tandems nicht mehr unter dem Dach von BBBS zustande kommen werden, dürfte ebenfalls ihren Preis haben.

Was kommt?

In München hat man derweilen aufgehört zu spekulieren, zu mutmaßen und auf Hilfe von außen zu warten. Dort formiert sich um Anne Kössler herum gerade die erste autonome regionale Gruppe. Sie organisiert sich selbst und arbeitet mit rein ehrenamtlicher Kraft. Inwieweit sie dabei Unterstützung aus Stuttgart bekommt oder dies überhaupt möchte, ist noch völlig offen.

Sebastian Volberg, Blogger und Kenner der Mentoringszene, sieht auch für kleine, selbst organisierte Mentoringprojekte gute Chancen. Er hat die Plattform www.vielstimmig.org gegründet, die das Thema „Patenschaften“ ins öffentliche Bewusstsein rücken will und auch die kleinen Initiativen sichtbar macht. Ziel ist es außerdem, dass sich Patenschafts-Projekte intensiver austauschen, ihr Wissen offenlegen, Open Source arbeiten. Volberg: „Bei voller Transparenz wäre die Schließung einer Organisation wie BBBS weniger dramatisch. Das Wissen würde erhalten bleiben und anderen zugutekommen.“ Auch gäbe es bereits interessante Ansätze, bei geringen Ressourcen kommunale und städtische Unterstützungsangebote zu nutzen.

Bei allem Optimismus wird es in Kürze nur noch einen Bruchteil der derzeitigen BBBS-Tandems geben. Die werden dann komplett ehrenamtlich gemanagt, und auch die „Stückkosten“ dürften dann stimmen.

www.bbbsd.de

https://www.facebook.com/groups/bbbsd.selbsthilfe

www.benckiser-stiftung.org

www.balu-und-du.de

www.vielstimmig.org

 

BBBS gilt als das weltweit größte Mentoringprogramm. Bereits 1904 wurde die Organisation in New York gegründet, die anfangs jugendliche Straftäter von Erwachsenen begleiten ließ. Heute bilden rund 270.000 Kinder und Jugendliche in zwölf Ländern 1:1-Tandems mit engagierten Erwachsenen. BBBS USA ist derzeit in einen Finanzskandal verwickelt, sodass alle öffentlichen Fördermittel eingefroren wurden.

Der Artikel erschien im Oktober 2013 im Engagement-Magazin Enter.

Henrik Flor

Diplom-Politologe, absolvierte nach dem Studium ein Verlagsvolontariat und betreute danach für eine Kommunikations-Agentur verschiedene Kunden aus der Buchbranche. Er leitete bis 2021 den Bereich Redaktion & Konzeption bei der Stiftung Bürgermut, baute dort das digitale Engagement-Magazin Enter auf und war von Anfang an bei der Entwicklung von opentransfer.de dabei. Nach einer Station bei der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt, leitet er die Kommunikation bei der Stiftung Bürgermut.

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