„Um kräftig zu werden, braucht eine Pflanze Zeit zum Wachsen“

Das bundesweite Mentoring-Programm „Balu und Du“ vermittelt Tandems zwischen jungen Erwachsenen und Grundschulkindern. Motiviert durch die erwiesene Wirksamkeit des Programms, hat sich der Balu und Du e.V. die systematische Skalierung auf die Fahnen geschrieben. Lisa Gregor ist für das größte Skalierungsprojekt des Vereins verantwortlich, das im Januar 2019 in Nordrhein-Westfalen startete. Wir haben mit ihr über Strategien, Erfolgsfaktoren, Learnings und Skalierung in Zeiten von Corona gesprochen.

Von Null auf Hundert in Gelsenkirchen

Die Erfolgsgeschichte von Gelsenkirchen gab den Anstoß: In der 260.000-Einwohner-Stadt in Nordrhein-Westfalen (NRW), die eher für klamme Kassen und vielfältige Herausforderungen bekannt ist, gelang es über einen Zeitraum von nur fünf Jahren, das Programm „Balu und Du“ erfolgreich zu etablieren. Ausschlaggebend dafür war eine engagierte, gut vernetzte Person von der städtischen Stelle für kommunale Prävention, die sich des Themas annahm. Inzwischen läuft das Programm dort an acht weiterführenden Schulen und mit 100 Patenschaften im Jahr. Das heißt: 100 Kinder, deren Bildungs- und Lebenschancen sich messbar verbessern.

„Als wir gesehen haben, wie großartig der Roll-out in Gelsenkirchen funktionierte, haben wir uns gedacht: Was Gelsenkirchen kann, das können andere Städte in NRW auch!“, erzählt Lisa Gregor. Zuvor gaben die Wirkungsberichte, die den Erfolg von „Balu und Du“ seit 2013 jährlich belegen, den Impuls, wachsen zu wollen.

Nachweisbarer Effekt

„Normalerweise schneiden Kinder mit niedrigerem sozioökonomischen Status in Untersuchungen zu prosozialem Verhalten schlechter ab als solche mit einem höheren“, erklärt Lisa. „Unsere Wirkungsberichte zeigen: Wenn Kinder ein Jahr an ‚Balu und Du‘ teilnehmen, ist diese Lücke geschlossen. Das heißt, die Kinder haben dann ein Verhalten auf dem gleichen Niveau. Der Effekt ist zwei Jahre später noch genauso nachweisbar – die Lücke bleibt geschlossen.“ Auch erhöhe sich die Chance, aufs Gymnasium zu kommen, um 11 bis 20 Prozent. „Es muss nicht jeder aufs Gymnasium gehen, aber darin zeigt sich, dass ‚Balu und Du‘ bewirkt, dass die Kinder besser im System zurechtkommen“, so Lisa. „Sie haben dann mehr Handlungsmöglichkeiten. Diese Fakten haben wir schwarz auf weiß.“

Mehr Kinder sollten profitieren können

Dennoch stellte die Organisation fest, dass es mit dem Wachstum langsam vorangeht. „Das fanden wir schade“, erzählt Lisa. „Wenn das Programm wirksam, nachhaltig und auch noch relativ günstig ist – dann sollten mehr Kinder davon profitieren können! Das war unser Ansatz. Und in Gelsenkirchen hatten wir gesehen: Es kann klappen.“

Balu und Du basiert auf drei Säulen, wobei der Schwerpunkt je nach Standort anders gesetzt sein kann. Für die lokalen Standorte kooperiert der Verein mit

  • Hochschulen, deren Studierende Mentoring-Partner:innen werden,
  • weiterführenden Schulen, wo Oberstufenschüler:innen eine Patenschaft übernehmen und
  • Wohlfahrtsverbänden und anderen Trägern ehrenamtlicher Strukturen, über die sich auch junge Berufstätige als Pat:innen engagieren können.

Im Idealfall gibt es in einer Kommune alle drei Säulen, aber irgendwo muss man anfangen. „Für NRW sind die Schulen der wichtigste Weg“, erklärt Lisa. „Hier setzen wir den Fokus, um zu wachsen.“ Das funktioniert über sogenannte Projektkurse, die die Landesschulverordnung in NRW vorsieht. Diese Kurse für Oberstufenschüler:innen laufen – wie das Programm „Balu und Du“ – über ein Jahr, können an unterschiedlichste Fächer und Themen gekoppelt sein und sollen mehr Praxisarbeit in den Unterricht bringen. „Es ist dabei auch möglich, mit außerschulischen Akteur:innen wie ‚Balu und Du‘ zu kooperieren“, berichtet Lisa. „Diese Kooperationen wollen wir vorantreiben.“

 

Türöffner :innen und ortskundige Mitstreiter:innen finden

Dabei geht der Verein systematisch über lokal gut vernetzte Multiplikator:innen vor. Statt die weiterführenden Schule in NRW einzeln anzusprechen – was aus Kapazitätsgründen gar nicht möglich und auch nicht effizient wäre – recherchiert Lisa für jede neue Kommune die Ausgangslage vor Ort. Strukturelle Skalierung heißt das bei „Balu und Du“:

  • Gibt es vor Ort schon Anbieter:innen ähnlicher Programme?
  • Ist es überhaupt sinnvoll, das Programm dort zu platzieren?
  • Was sind die lokalen Besonderheiten?
  • Wo besteht Bedarf?
  • Wer hat den Überblick zu Schulen und relevanten Akteuren, kann Türen öffnen und weiterführende Hinweise geben?

Türöffner:innen können zum Beispiel das Bildungsbüro, die Freiwilligenagentur, die Zuständigen für Präventionsketten oder Schulsozialarbeit sein – „das ist in jeder Stadt anders und individuell“, so Lisa. „Da muss man erst mal recherchieren. Das war eines unserer ersten Learnings. Es gibt überall Multiplikator:innenstellen, aber es sind nicht überall die Gleichen. Wir suchen die vor Ort passenden Multiplikator:innen und lassen uns dann von ihnen in die Stadt tragen. So finden wir sehr viel effektiver die Schulen, zu denen das Programm passt und die es gebrauchen können.“

Corona bremst den Wachstumsschub

52 Balu-und-Du-Standorte gibt es mittlerweile in NRW, 30 davon sind an Schulen. „Aber es zeigt sich, dass es nicht in ganz NRW so leicht ist wie in Gelsenkirchen“, so Lisas Zwischenfazit. Und natürlich erschwert die Corona-Pandemie den Wachstumsschub. „Balu und Du“ setzt hauptsächlich auf menschliche Begegnungen und darauf, gemeinsam die Welt zu entdecken – „das geht ja zurzeit nicht“, so Lisa. Bei den Tandems sei es ganz unterschiedlich gelaufen: Manchmal sei es gelungen, die Begegnungen auch mit physischem Abstand auf vielfältige und kreative Art lebendig zu halten – etwa durch Telefonate, Päckchen oder eine Schnitzeljagd im Garten des Moglis. Manchmal sei der Kontakt angesichts der vielen Alltagsbelastungen für die Familien aber auch auf der Strecke geblieben. „Insgesamt bewerten wir es aber positiv“, so Lisa.

Für die Skalierungsinitiative habe sich durch die Pandemie viel verändert – nicht nur zum Negativen. „Manche Städte und Schulen haben sich zurückgezogen, andere haben gesagt: Jetzt erst recht!“, berichtet Lisa und findet: „Es war schön zu sehen, dass, wenn so viel auf Eis gelegt werden muss, engagierte Einzelpersonen trotzdem viel bewegen können.“

Erfolgsfaktoren, Learnings und Tipps

Probiert’s mal mit Gemütlichkeit – gemäß diesem Dschungelbuch-Motto aus „Balu’s Song“ antwortet Lisa auf die Frage, was sie anderen Skalierungswilligen mitgeben möchte: „Ruhe und Geduld haben – das ist unser wichtigstes Learning! Man sollte den Sachen genug Zeit geben und nicht so schnell hohe Erwartungen haben. Wir sind im Januar 2019 gestartet und hatten gehofft, die ersten Schulen schon nach den Sommerferien ins Programm aufnehmen zu können. Aber so schnell funktioniert es in unserem Fall nicht. Wir verkaufen keine Limonade, sondern sind im sozialen Sektor unterwegs. Damit ist viel Verantwortung verbunden. Bevor die Schulen sagen: Wir machen jetzt bei ‚Balu und Du‘ mit, müssen sie erst prüfen: Ist das wirklich gut?“

Hilfreich sei es auch, wenn ein Programm seine Wirksamkeit über Evaluationen und Studien nachweisen könne und damit einen Qualitätsnachweis habe. Das überzeuge Multiplikator:innen und Expert:innen in der Stadt. Aber manchmal überzeuge es auch intuitiv, so Lisas Erfahrung: „Das kommt darauf an, mit wem man spricht. Jemand, der schon Ähnliches kennt, ist vielleicht schneller überzeugt als jemand, für den es etwas ganz Neues ist.“

Auch in der gründlichen Recherche vor Ort sieht Lisa einen wichtigen Erfolgsfaktor: „Je mehr ich mich in eine Stadt eindenke und mich umschaue, was es dort gibt, desto besser verstehe ich, wie es funktioniert. Wichtig ist, dass Leute an Bord sind, die wissen, was gebraucht wird.“ Auch das erfordert Zeit. „Um kräftig zu werden, braucht eine Pflanze Zeit zum Wachsen. Wenn sie zu schnell hochschießt, wird es nichts“, so Lisas Erfahrung.


Balu und Du e.V.

Das bundesweite 1:1-Mentoring-Programm „Balu und Du“ vermittelt junge Erwachsene zwischen 17 und 30 Jahren – die Balus – an sechs- bis zehnjährige Grundschulkinder, die unter herausfordernden Umständen aufwachsen – die Moglis. Das Programm läuft über ein Jahr. In dieser Zeit treffen sich die Tandems mindestens einmal in der Woche.

Das Projekt startete 2001 und ist seit 2005 als Verein mit einer Geschäftsstelle in Köln organisiert. Bundesweit sind über 120 lokale, selbstständige Standorte Teil des Balu-und-Du-Netzwerks, die von Wohlfahrtsverbänden, Freiwilligenagenturen, ehrenamtlichen Vereinen und Bildungseinrichtungen getragen werden. Über 11.700 Balu-Mogli-Gespanne waren seit Projektstart aktiv, inzwischen kommen jährlich rund 1.200 Tandems dazu.

Lisa Gregor
Programmausbau NRW
Balu und Du e.V.
lisa.gregor@balu-und-du.de
Tel: 0221 2010 339

Christine Langer

Christine Langer ist bei der Stiftung Bürgermut als Projektkoordinatorin bei openTransfer #Patenschaften tätig. Sie studierte Internationale Entwicklung und Koreanologie in Wien und Seoul (Südkorea) sowie Gender Studies in Berlin (MA Gender Studies). Während ihrem Studium begann sie beim Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg (LSVD) zu arbeiten wo sie nach ihrem Abschluss das Mentor:innen Programm für queere Geflüchtete leitete. Privat engagiert sie sich im Bereich (Queer-)Feminismus und Fußball.

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