Ambivalenzen erkennen und gestalten

Eine Session von: Bernd Schüler (Netzwerk Berliner Kinderpatenschaften e.V.)

Auf dem Bild ist Bernd Schüler während seiner Session zu sehen.
Fotocredit: Andi Weiland I openTransfer.de

Achtung, Disclaimer: Diese Zusammenfassung liefert keine direkte Anleitung, wie man vom einen Moment auf den anderen „mental health“ erreicht. Das zeigte sich auch in unserer Session beim openTransfer CAMP Mental Health: Die Teilnehmenden zeigten sich zunächst nachdenklich; kein Wunder bei einem ersten Sprung ins kalte Wasser der Theorie. Die zu Beginn in der Session erläuterte These ist folgende: Die vorgestellten Konzepte bieten Zugänge, wie man Konstellationen in Patenschaften besser verstehen und leichter bewältigen kann, zum Wohle aller Beteiligten. Die inhaltlich gekürzte Botschaft lautet: Spannungen und Widersprüche gehören dazu; das Wissen darum kann entlasten und zu einem kreativen Umgang anspornen.

Spannungsfelder in Patenschaften

Um sich das Phänomen zu erschließen, ist es hilfreich zu näher zu betrachten, was Pat:innen und Mentor:innen dazu sagen, in welchen Rollen sie, stetig oder punktuell, für ihr Gegenüber aktiv sind. Meistens bekommt man hier eine breite Palette angesagt. Um nur einige wenige Beispiele aus einer Fortbildung zu nennen, wo danach gefragt wurde: „Tröster“, „große/r Bruder/Schwester“, „Zuhörer“, „Spielpartner“, „Erlebnisermöglicher“, „Coach“, „Vorbild“, „Grenzzieher“, „Wertevermittler“ „Ersatz(groß)eltern“, „Türöffner“, „Lehrer“.

Spannend daran: Diese Vielfalt an wahrgenommenen Rollen entspricht offenbar auch der Erfahrung der Gegenüber. Es gibt Hinweise, dass Mentees und Patenkindern dies als Qualität zu schätzen wissen. Man höre etwa, was der 17-jährige Hassan in einem Film der Schülerpaten Berlin e.V. über seinen Paten sagte:

Inzwischen ist er alles für mich, ein Lehrer, ein Freund, ein großer Bruder, ein Vater, eine Mutti, alles Mögliche.“

So frohgemut diese Aussage dargeboten wurde, so irritiert mag man sein, dass der angesprochene Pate dazu noch lächelt. Denn wie soll das eine Person vereinbaren, ohne überfordert oder gar zerrissen zu sein? Schließlich liegen die Anforderungen allein an „Mutti“ und „Lehrer“ weit auseinander. Und doch geht es bei Patenschaften und Mentoring genau um diese Melange. Wissenschaftler:innen zufolge besteht das Geheimnis von Mentoring und Patenschaften darin, etwas Hybrides zu sein. Mentoring wird als „professional friendship“ (Philipp/ Spratt) dargestellt, für andere „mentors fill a niche that lies somewhere between professional and kin“ (Rhodes). Ein Arbeitsmodell zweier israelischer Forscherinnen sieht Mentor:innen „mit den Rollen von Eltern, Therapeuten, Freunden und Lehrkräften jonglieren“. Dabei be- oder ersetzen sie diese Rollen nicht vollständig, sondern bedienen quasi nur zeitlich und sachlich begrenzt einzelne Facetten davon.

Was dadurch auch einsichtig wird: Im Mentoring sind strukturell viele Spannungsfelder angelegt, weil viele gegensätzliche Prinzipien und Werte kombiniert werden. Das kann belastend sein, für die Beteiligten wie für die Beziehung. Deshalb hat das Konzept der „Ambivalenz“ in Patenschafts- und Mentoringbeziehungen eine große Bedeutung, wie es Familiensoziolog:innen beschrieben haben. Gemeint ist dabei, dass wir zwischen einander widerstreitenden Gefühlen, Gedanken und Handlungen hin und hergerissen sind, in Patenschafts- und Mentoringbeziehungen etwa zwischen folgenden:

  • Nähe und Distanz
  • Vertrautheit und Fremdheit  
  • Solidarität und Konflikt
  • Autonomie und Abhängigkeit
  • Autorität und Augenhöhe

Ambivalenzen akzeptieren

Die Pointe der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen Spannungsfeldern ist nun zu sagen: Ambivalenzen gehören dazu. Sie sind kreativ zu gestalten, aber nicht wegzumachen. Fürsorgliche Beziehungen sind immer ambivalent, der Soziologe Kurt Lüscher etwa versteht Menschen überhaupt als „homo ambivalens“. Wer versucht, sich nur auf eine Seite zu schlagen und damit die gegensätzlichen Pole zu leugnen, riskiert den Bruch der Beziehungen.

Es spricht viel dafür, diese Zusammenhänge auf Patenschaften übertragen zu können. Unter Umständen sind die Gegensätze und ihr fortlaufender Widerstreit hier noch verschärft. Zum Beispiel treffen im Mentoring, bedingt durch unterschiedliche Alter, Herkünfte etc., Fremde aufeinander, die vertrauter werden, Gemeinsames entwickeln, ohne dass Differenzen bei Bildung, Einkommen etc. verschwinden können. Oder: Es braucht Nähe, man möchte nah dran sein, gleichzeitig braucht es dazu aber auch Distanz. Als freundschaftliche Förderer:innen sind Mentor:innen solidarisch – und müssen doch in den Konflikt gehen. Augenhöhe herzustellen ist so wertvoll wie wirksam, während Mentor:innen je nach Situation auch gezwungen und gewillt sind, autoritativ zu handeln.

Damit sind die Gefühlslagen und Erkenntnisse nur sehr abstrakt angesprochen, als eine erste Annäherung. Das vorgestellte Konzept der Ambivalenz könnte zumal in Vorbereitung und Begleitung helfen, solche Spannungsfelder einzuführen und bei den Beteiligten schneller zu erfassen. Das schmälert die Herausforderung nicht, könnte jedoch zur Entlastung beitragen, wenn zielsicherer nach Balancen und kreativen Wegen des Umgangs damit gesucht werden kann. Es bleibt aber auch die Herausforderung Ambivalenzen aushalten zu müssen.

Widersprüche aushalten

Viele Belastungen entstehen durch Widersprüche. Gerade in Patenschaften sind diese Widersprüchlichkeiten jedoch nicht (immer) zu eliminieren, sondern anzunehmen, um sie zu bewältigen. Das gilt ähnlich für ein weiteres Phänomen, das in der Session vorgestellt wurde: Ambiguität. Damit wird meistens Viel- und Mehrdeutigkeit gemeint. Auch hier erscheint es wichtig, sich diesem Phänomen erst einmal zu vergewissern.

Ein klassisches Beispiel für eine ambige Situation ist, wenn ein Patenkind anfangs mehrere Treffen lang schweigt und sich zurückhält. Wer sich als Pat:in gleich ein eindeutiges Bild verschaffen will, könnte hier dazu geneigt sein zu sagen: Diese Verhaltensweise des Patenkinds zeigt, dass es mit mir nichts anfangen kann. Doch vielleicht ist das Kind auch nur unsicher, ihm wurde die Patenschaft nicht richtig erklärt oder es ist irritiert, weil seine Mutter diese Unterstützung nur widerwillig gesucht hat. Nicht immer ist das schnell zu klären, was Sache ist, wenn überhaupt. Aber sicher ist: Sich schnell auf eine Deutung festzulegen, mindert mittelfristig die Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten der Beteiligten und damit ihr Wohlbefinden. Auch hier wider: Ein Aushalten von Uneindeutigkeit kann so wertvoll wie erforderlich sein.

Artikel: Bernd Schüler

Johannes Hofmann

Johannes Hofmann unterstützte bei der Stiftung Bürgermut als Projektkoordinator das Projekt D3 und die Kolleg:innen des openTransfer Programms. Während und nach seinem Studium der Betriebswirtschaftslehre und des Informationsmanagements in Koblenz und Warschau arbeitete er beim BildungsCent e.V. im Bereich Bildung für nachhaltige Entwicklung sowie in eigenen Projekten im Gebiet der Kreislaufwirtschaft.

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