Discovering Hands – Höchste Anforderungen an die Qualität der Arbeit

Menschen, denen einer ihrer Sinne fehlt, trainieren die verbliebenen oft umso stärker. Die Idee, den Tastsinn blinder Frauen im Rahmen der Brustkrebsvorsorge einzusetzen, erhöht die Früherkennungsrate. Wie dieses Konzept sozial und auch unternehmerisch erfolgreich sein kann, erläutert der Geschäftsführer von discovering hands® gUG, Dr. Frank Hoffmann.

 

discovering hands ist ein neues Programm, das den besonders ausgeprägten Tastsinn von Blinden und Sehbehinderten für die medizinische Krebsfrüherkennung anwendbar macht. Zu diesem Zweck können Interessierte eine neunmonatige Weiterbildung zur Medizinischen Tastuntersucherin (MTU) durchlaufen, die dann später in Praxen und Kliniken unter der Verantwortung eines Arztes tätig werden.

Aktuell ist die Abtastung der Brust eine Vorsorgeleistung der gesetzlichen Krankenkassen, die ab dem 30. Lebensjahr in Anspruch genommen werden kann. Die Teilnahme am Mammografie-Screening ist erst ab dem 50. Lebensjahr erlaubt. Während Tastuntersuchungen bisher in der Regel in knapper Zeit durch Frauenärztinnen und Frauenärzte durchgeführt werden, kann die MTU die weibliche Brust länger und durch die spezialisierte Ausbildung standardisierter abtasten. So kann die Früherkennungsrate bei Brustkrebs erhöht werden.

 

Vom Ashoka Fellow zum Sozialunternehmen

Die Idee für das Projekt entstand im Jahr 2005. discovering hands® war bis 2010 zunächst ein Entwicklungsprojekt für die Ausbildung der MTU, dann aber musste die Markteinführung organisiert werden – eine große Herausforderung. Ende des Jahres 2010 wurde ich Ashoka Fellow. Dies generierte eine große Presseresonanz. Wir wurden bekannter und konnten neue Praxen und Interessierte ansprechen. Gefördert wurden wir überdies durch die Initiative „Making More Health“ von Boehringer Ingelheim und Ashoka, die Sozialunternehmer, die an innovativen Gesundheitslösungen arbeiten, diese unterstützt und zusammenbringt. Seit Anfang 2012 gibt es die discovering hands® gemeinnützige Unternehmergesellschaft (gUG). Dies ermöglicht es uns, die Skalierung mit dem Fokus Deutschland schneller voranzubringen.

 

Thema: discovering hands  Bild: Jakob Studnar Westdeutsche Allgemeine Zeitung

Momentan kooperiert unser Unternehmen mit Sitz in Mülheim an der Ruhr mit 17 Arztpraxen im ganzen Bundesgebiet, viele davon in Nordrhein-Westfalen. Einige MTU sind in mehreren Praxen gleichzeitig tätig.

 

Bürokratische Hürden

Unser Ziel ist die umfassende Einbindung von MTU in die medizinische Routinediagnostik, zunächst zur Verbesserung des Brustkrebs-Früherkennungsprogramms. Andere Diagnostikfelder werden in Zukunft entwickelt werden. Wichtig ist, dass immer mehr Krankenkassen die Kosten der Untersuchung für ihre Versicherten übernehmen. Zunächst haben wir uns auf die Vermittlung der Qualifikationsmaßnahme im Rahmen der beruflichen Rehabilitation konzentriert. Aufgrund bürokratischer Hürden ist die Rekrutierung geeigneter Ausbildungskandidatinnen hier jedoch immer schwieriger. Daher setzen wir uns auf politischer Ebene dafür ein, die Ausbildung zur MTU als primäre Berufsausbildung anbieten zu können. Damit sollen sich Blinde und Sehbehinderte in Zukunft im Rahmen der Erstausbildung, die dann einen noch einmal deutlich erweiterten Inhalt hätte, als MTU qualifizieren können.

Wichtig ist uns, dass dies bessere und nachhaltige Berufschancen für Blinde und Sehbehinderte eröffnet. Die Entscheidungsräume und die persönliche Lebensqualität dieser Gruppe werden somit deutlich erhöht. Insgesamt stellen wir fest, dass sich das Interesse an unserem Programm und die Akzeptanz stetig erhöhen.

Unser Unternehmen wird sein operatives Geschäft künftig über eine Servicegesellschaft abwickeln. Dabei ist uns natürlich wichtig, mit planbaren Umsatzzahlen arbeiten zu können. Umsätze generieren wir hauptsächlich durch den Verkauf der bei jeder Untersuchung unerlässlichen selbstklebenden Orientierungsstreifen, die wir selbst entwickelt haben und die patentgeschützt sind. Dies gelingt verlässlicher, seitdem verschiedene Krankenkassen die Kostenübernahme für diese Art der Vorsorgeuntersuchung zugesagt haben. Ein Investor ermöglicht uns die Umsetzung unseres Geschäftsplans in den nächsten Jahren, bis sich das Unternehmen selbst trägt. Darüber hinaus betreiben wir Fundraising.

Unser Ziel ist es, bis 2019 74 MTU in Deutschland qualifiziert zu haben. Außerdem werden wir die Tätigkeit der MTU weiter wissenschaftlich validieren.

 

International mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten wachsen

Unser Programm hat das Potenzial, sich auch in anderen Ländern im Rahmen von Social Franchise zu verbreiten. Natürlich müssen diese Schritte gut vorbereitet sein. Zu beachten ist, dass die Länder sich schon durch die rechtlichen Rahmenbedingungen unterscheiden. Vor einem Programmstart muss also eine sorgfältige Analyse am Anfang stehen: Wie funktioniert das medizinische System? Wer sind die wichtigen und richtigen Ansprechpartner? In welchen Institutionen sind Blinde organisiert? Wir können aber aus den Erfahrungen, die wir in Deutschland gemacht haben, lernen und damit Fehler in der internationalen Arbeit vermeiden. So wissen wir, welche Faktoren für eine erfolgreiche Markteinführung unerlässlich sind. Außerdem sehen wir, dass auch bei einem kleinen Team eine Diversifizierung der Geldzuflüsse für die Finanzierung von Anfang an angestrebt werden sollte.

Wir stehen im stetigen Kontakt mit Ärzten und Organisationen in anderen Ländern. In Österreich wird das discovering hands®-Programm voraussichtlich 2014 starten. Weitere Kandidaten sind zurzeit Israel und Spanien. In Spanien sind wir in Kontakt mit Experten der Blindenorganisation ONCE. Für die Qualitätssicherung wird auch zukünftig weltweit die deutsche discovering hands®-Organisation verantwortlich zeichnen.

 

Herausforderungen

Um den Tastsinn Blinder und Sehbehinderter stärker in der medizinischen Diagnostik zu verankern, sollen weitere Diagnostikfelder zum Einsatz von MTU identifiziert und in Lehrinhalten abgebildet werden. Beispielsweise könnten in Zukunft Untersuchungen der Lymphknotenstationen, der Prostata und der Hoden, des Augeninnendrucks oder der Schilddrüse durch dafür geschulte MTU (weibliche wie männliche!) angeboten werden.

Eine permanente Aufgabe wird es sein, auch künftig allen Stakeholdern des discovering hands®-Systems gerecht zu werden. Wir suchen interessierte Ärzte als Arbeitgeber, aber natürlich auch geeignete Ausbildungskandidatinnen. Darüber hinaus binden wir weitere Partner ein: Berufsförderungswerke als Träger der Ausbildung, Krankenkassen, Politik und Reha-Träger.

Gemeinsam mit diesen wollen wir erreichen, dass schon bald die MTU, die aus ihrer Behinderung eine Begabung gemacht hat, ein fester Bestandteil der medizinischen Diagnostik geworden ist.

http://www.discovering-hands.de/

 

CC Lizenz

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Frank Hoffmann

Dr. Frank Hoffmann studierte Humanmedizin an der Universität Düsseldorf, arbeitete von 1985 bis 1987 als wehrpflichtiger Arzt, bevor er 1987 Assistenzarzt an der Frauenklinik des Ev. Krankenhauses Oberhausen wurde. Es folgten die Facharztprüfung 1992 und die Promotion 1990. 1993 ließ er sich als Frauenarzt in Duisburg-Walsum nieder und baute die größte gynäkologisch-fachärztliche Gemeinschaftspraxis der Region unter der Bezeichnung „Praxis für Frauen®“ auf. Dr. Hoffmann ist im Fortbildungsausschuss der Ärztekammer tätig sowie im Qualitätszirkel der Frauenärzte in Duisburg. Seit 2004 entwickelt er ein neues Tätigkeitsfeld für blinde Frauen - als spezialisierte „Medizinische Tastuntersucherinnen MTU“, unter dem Namen „discovering hands®“ geschützt. Seit November 2010 ist Dr. Hoffmann Ashoka-Fellow, seit Ende 2011 Geschäftsführer der discovering hands gUG (haftungsbeschränkt) und führt umfangreiche Reise-, Organisations- und Vortragstätigkeiten in dieser Funktion aus.

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